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Henning Harnisch
Author Henning Harnisch
Bald ist der Wahlkampf vorbei
Bald ist der Wahlkampf vorbei   Bild: Martin Vogel

Tour 3 - letzter Tag: Alles ohne Happy End

Ich bot Martin an, an unserem letzten Tag mit Terminen nicht aus Gießen nach Frankfurt anreisen zu müssen, wenn ich Leute vom Hessischen Leichtathletikverband treffe. Es war das finale Treffen mit Sportleuten, das noch zu absolvieren war. Er guckte mich ernst an und sagte, nein, das sei doch der letzte Tag mit einem Termin, da wolle er unbedingt dabei sein. Melancholie überkommt einen oftmals unerwartet. Zeit für ein Resümee, merke ich.

Wir waren jetzt, mit kleinen Pausen dazwischen, zweieinhalb Monate kreuz und quer in Hessen unterwegs: mehr als 18.000 Kilometer im Auto, von Trendelburg (moderner Trimm-dich-Pfad) bis Lampertheim (Kanu-Akademie), von Heringen-Herfa (Kegeln) bis Limburg (Hockey). 

Zu den 18.000 Kilometern im Auto kommen noch ein paar Kilometer im Bus
Zu den 18.000 Kilometern im Auto kommen noch ein paar Kilometer im Bus   Bild: Martin Vogel

Martin, was hat Dir in den letzten Wochen am meisten Spaß gemacht? Die Rückfahrten zum Feierabend. Warum?, frage ich ihn. Also das hat am meisten Spaß gemacht, sagt er, soviel Blödsinn haben wir uns da erzählt.

Stimmt. Das solle aber nicht heißen, dass andere Sachen nicht auch Spaß gemacht hätten. Martin ist ein sehr lustiger und loyaler Typ. Im richtigen Leben ist er Journalist und Fotograf, so wie man das heutzutage noch sein kann. Vor allem ist er aber ein interessierter Mensch, viel mehr als nur ein Basketball-Freak. Er hat es übrigens geschafft, in den letzten Wochen nicht ein einziges Mal mit mir Sportarten auszuprobieren und aktiv Sport zu machen. Einer musste ja schließlich die Fotos machen, begründet er sein Nichtstun. 

Nicht nur eine Behauptung: Martin macht wirklich Fotos
Nicht nur eine Behauptung: Martin macht wirklich Fotos   Bild: Henning Harnisch

Was ist für Dich das Schöne an Hessen, frage ich ihn. Es ist Postkarten-Deutschland, ohne Tegernsee zu sein. Was soll ich sagen, meint er, ich bin hier zuhause und kenne jeden zweiten Baum. Martin übertreibt gerne. Soll er doch! Die vielen hessischen Idiome, das Frankfordderische, die Sprache des Odenwalds, das Oberhessische, das fast Westfälische aus Nordnordhessen oder das der Hinterländer kann er perfekt imitieren. Allein wie er über die Wetterau hinweg rrrrrrrollt.

Was ein Spaß, als wir in Wiesbaden bei den Rollstuhlbasketballern von den Rhine River Rhinos zu Besuch waren! Martin kennt die Sportidee in- und auswendig. Er weiß im Schlaf, wieviel Einwohner Island hat, wann sie ihre Sportidee gestartet haben und bei welchen Welt- und Europameisterschaften sie in den letzten Jahren erfolgreich dabei waren. 330.000! Vor 15 Jahren! Fußball! Handball! Basketball!

Er war bei allen Treffen dabei und ist fast wütend, dass das noch nicht in Hessen umgesetzt werden kann. Es kann nicht sein, sagt er, dass wir das hier alles ohne Happyend machen. Recht hat er, dieser (Sport-)Romantiker! 

Nicht der Tegernsee, aber auch Weilburg an der Lahn ist schön
Nicht der Tegernsee, aber auch Weilburg an der Lahn ist schön   Bild: Martin Vogel

Er war auch Augen- und Ohrenzeuge, als ich vor ein paar Tagen bei einer Abendveranstaltung in Lauterbach emotional ins Grenzwertige vorgestoßen war. Ohne, dass das mein Coach mit mir geübt hatte. Es überkam mich einfach.

Ich hatte das eine Beispiel ins Spiel gebracht, das für mich Sinnbild der ganzen Tour geworden war: Bei unserem Besuch der Gesamtschule in Frankfurt-Preungesheim war ich auf ein Mädchen aus einer der achten Klassen getroffen; ein pfiffiges und lustiges Mädchen. Sie hatte es drauf. Nicht direkt im Fußball, aber als Schauspielerin.

Ich hatte sie nach dem Unterricht gefragt, ob es darstellendes Spiel bei ihnen an der Schule gäbe. Sie verneinte. Und ich ging von dannen. Und fragte mich und frage mich, was denn gewesen wäre, wenn dieses Mädchen, dessen Namen ich leider nicht habe, ab der ersten Klasse in die Welt des Theaters hineingewachsen wäre, mit Lehrern und Trainern, durchgängig die ganzen Jahre hindurch. Komisch, da schüttelt es mich schon wieder – sie hätte alle an die Wand gespielt, da bin ich mir sicher! 

Martin korrigiert den Text
Martin korrigiert den Text   Bild: Henning Harnisch

Sportidee, Kulturidee – Leude, was ist los, warum legen wir nicht alles da rein, dass alle, ja alle, und nicht nur die, die es sich wortwörtlich leisten können, in etwas hineinwachsen können, in Theater, Spiel und Tanz, in Kunst, Musik und Zirkus? Leude, glaubt mir, da würde einiges los sein! Martin nickt routiniert den Text ab.

Heute ist Wahl.

Henning Harnisch.
Henning Harnisch.   Bild: Martin Vogel

Song of the day

Fünf Sterne Deluxe – Die Leude

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Henning Harnisch
Author Henning Harnisch
Die Skyline von Frankfurt am Main
Die Skyline von Frankfurt am Main   Bild: Martin Vogel

Tour 3 - Tag 7: Tagebuch eines Handelsreisenden

Larissa, Ehefrau meines Freundes Willi und zum wiederholten Mal Gastgeberin in Frankfurt, drückt mir zum Abschied eine noch eingepackte Zahnbürste in die Hand. Ich habe deine alte gesehen, sagt sie trocken. Gestern Abend hatten wir über vieles, auch über die Walz geredet, drei Jahre unterwegs sein war eines der Themen; einen von diesen Handwerksgesellen hatte ich in Frankfurt auf der Straße in Kluft gesehen. Ich bin da regelrecht ins Schwärmen geraten.

Larissa entwickelt Mutterinstinkte, denke ich, während wir in Schotten bei Edeka ein „Krusti“, ein Baguettebrötchen mit Krustenbraten, beschmiert mit Meerrettichcreme (schmeckt fantastisch, sagte mir die Verkäuferin auf Nachfrage), essen. Martin hat mir eben im Auto erzählt, dass wir über 17.000 Kilometer in den letzten Wochen gefahren sind. Mir wird schwindlig. Und jetzt sitzen wir im Windzug. Tagebuch eines Handelsreisenden. 

Henning Harnisch
Henning Harnisch   Bild: Martin Vogel

Ich bin hochzufrieden. Eben saßen wir auf zwei Cappuccinos mit einem Sporthelden meiner Kindheit zusammen. Er hatte sich treffen wollen, aber nur unter der Bedingung, kurz vor der Wahl inkognito bleiben zu können. Oh, bin ich versucht, ihn zu feiern!  Aber, da gibt es partout kein Vertun, an die Abmachung muss sich gehalten werden. Er ist so gut im Gespräch wie er als Sportler war. So schnell ging es noch nie.

Nach zwei Minuten steht alles. Zack, zack, zack, so muss man es machen. Punkt. Hört sich nach Kokain an, war aber so. Mit dabei ist der Präsident eines Ballspielvereins des Ortes, an dem der nicht genannt werden wollende Held meiner Kindheit wohnt.

Die beiden standen zufälligerweise zusammen auf der Straße, als wir ankamen. Und dann ist der Präsident unserer Einladung gefolgt und auch mitgekommen. Und auch er ist sich einig mit uns, in eben diesen zwei Minuten. Martin, sage ich, das war das beste Treffen auf der Tour. Unfassbar!

Sowieso bin ich mir sicher, würden wir den 20 Lieblingssportlern meiner Kindheit von der Sportidee erzählen und ihnen erklären, wie wir sie in Hessen umsetzen wollen, wir hätten 20 auktoriale Erzähler der Sportidee gewonnen.

Aprospos Helden: Vor dem Kino in Lauterbach
Aprospos Helden: Vor dem Kino in Lauterbach   Bild: Martin Vogel

Dieser Text ist kürzer als sonst. Weil ich nicht noch mehr über meinen Helden schreiben darf. Leider. Deswegen nur eine klitzekleine Anekdote, die ihn nicht verrät, aber etwas über ihn und den hessischen Humor sagt. Der Mann hat es drauf, er ist immer noch fit, das sieht man. Ich frage ihn also, ob er mir einen Tipp geben könne, wie ich mehr Klimmzüge schaffen könnte. Mehr machen!, sagt er.

Song of the day

The Notwist - Run Run Run

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Author Henning Harnisch
Nicht Segeln, sondern Rudern – Henning Harnisch auf dem Wasser
Nicht Segeln, sondern Rudern – Henning Harnisch auf dem Wasser   Bild: Martin Vogel

Tour 3 - Tag 6: Manchen Mist vergisst man nicht

Mache ich mir etwas vor, verkläre ich mein eigenes Leben mit dem Sport? Ich muss lange nachdenken, bis ich mich an schlechte Erfahrungen rund um den Sport in meiner Jugend erinnern kann.

In Laboe bei Kiel machten wir drei Kinder in den Sommerferien einen Segelschein. Während mein Bruder und meine Schwester den amtlichen A-Schein anstrebten, kam für mich, den 12-jährigen, nur der sogenannte Optimistenschein in Frage. Was sich optimistisch anhört, war in Wahrheit ödes Rumsitzen in viereckigen Nussschalen, eben den sogenannten Optimisten. Höhepunkt der Sportveranstaltung: die Wende. Oder gar der Dunking des Segelns: die Halse. Wow!

Stundenlanges Hin- und Herfahren, 50 Meter vor der Küste, parallel zu dieser Küste. Irgendwann ermahnte mich der „Trainer“ aus dem Schlauchboot, ich solle mich bei der Wende umdrehen. Und dann zwei, drei Wenden später, wohl wieder nicht geguckt, schrie er mich an, jetzt reiche es! Und schickte mich für den Rest des Vormittags an Land, den Steg schrubben.

Manchen Mist vergisst man nicht. Eine weitere, letzte Geschichte: Beim zweiten Skikurs in meinem Leben, ich war sieben oder acht, da hat mich ein Mädchen einen Tag schikaniert. Heute würde man dazu wohl Mobbing sagen. Worum ging es da? So genau weiß ich das nicht mehr. Aber ich weiß, dass da was war.

Guter Trainer: Mit Boxer Reinhard Jassmann im Gym
Guter Trainer: Mit Boxer Reinhard Jassmann im Gym   Bild: Martin Vogel

Ich glaube, ich habe ansonsten einfach Glück gehabt, keine Schreihälse, Sadisten oder Idioten als Trainer, keine Männer mit falschen Motiven im Spiel, keine wirklich schlimmen Funktionäre. Und aus dem Tennisverein konnte ich austreten. Stattdessen habe ich viele Sportarten ausprobieren können und einige davon auch intensiver betrieben. Das steht auf der Habenseite.

Aber vor allem habe ich die für mich passende mit Basketball gefunden und damit eine sehr schöne Zeit gehabt, die in einer runden Sportlerbiografie mündete.

Basketball bleibt sein Sport: Während der Aufzeichnung des
Basketball bleibt sein Sport: Während der Aufzeichnung des "Heimspiel!" des Hessischen Rundfunks   Bild: Martin Vogel

Eine schöne Anekdote also. Man könnte auch sagen, ein Beispiel aus der oder für die Sportromantik. Denn das kann natürlich alles ganz anders laufen. Ich kenne zig Leute, die aus unterschiedlichsten Gründen aus dem organisierten Sport ausgestiegen sind oder sich, nicht ganz so dramatisch, abgewendet haben. Einerseits wegen der schlechten Strukturen. Aber andererseits primär, weil da Leute waren, mit denen sie ab einem bestimmten Alter definitiv nichts mehr zu tun haben wollten.

Vereinsort: Beim TuS 1912 Obertiefenbach
Vereinsort: Beim TuS 1912 Obertiefenbach   Bild: Martin Vogel

Der organisierte Sport in Deutschland lebt von Traditionen und ist per se konservativ. Die Begriffe, die beschreiben, was da läuft, verraten den Geist: Es gibt den Sportwart, den Schriftführer und den Schatzmeister im Sport. Es gibt das Kampfgericht und den Schiedsrichter. Und es gibt den Breitensport und den Leistungssport. Allein das letzte Begriffspaar: wie wirkungsmächtig binär ist das eigentlich?

Mancher Begriff lässt sich nicht neu aufladen, merke ich nicht erst heute. Zu belegt. Zu abgegriffen. Es gibt durchaus immer noch junge Menschen, die in diese Begriffswelt einsteigen und da etwas werden wollen. Es gibt aber auch sehr viele junge Menschen, die in diese Welt mit ihren bestimmten und bestimmenden Wörtern gerade nicht hineinwollen und sich gruseln bei der Vorstellung, da hineinzugeraten oder gar mitzumachen. Sie sind, wortwörtlich, begriffsstutzig.

Pokale bei der SpVgg. Leusel
Pokale bei der SpVgg. Leusel   Bild: Martin Vogel

Am Abend sitzen wir im Vereinsheim des SV Sachsenhausen. Mit uns sind Eltern, Lehrer, Erzieher, Trainer sowie Alex und Maurice von der Vereinsleitung am Tisch. Wir hatten uns bei der letzten Tour auf diesen Abend verständigt, die Sportidee sollte vorgestellt, übersetzt und angepasst werden für die Lage in Sachsenhausen mit seinem progressiven Fußballverein.

Rund 30 Leute sind da, um diese Lage zu besprechen. Alles läuft prima. Am Ende tauschen Erzieher und Lehrer Nummern und Mailadressen mit Alex und Maurice aus und besprechen Folgeschritte. Hier könnte etwas Größeres entstehen, denke ich. Ein Trainer spricht mich an. Er lese meinen Blog, sagt er, und frage sich nun, warum ich nicht über diese Begriffe, die ich eben in der Veranstaltung thematisiert und problematisiert hätte, schreiben wolle.

Ich sage ihm, das sei eine gute Idee. Aber ich wolle ja auch ein neues Vokabular anbieten, ob er da Ideen hätte, etwa für den Schiedsrichter oder das Kampfgericht. Es lohne, meint er, in andere Sprachen zu schauen, teilweise gäbe es da schöne sprachliche Lösungen. Stimmt, denke ich, allein der Referee klingt anders und spricht mich anders an. 

Abendveranstaltung beim SV Sachsenhausen
Abendveranstaltung beim SV Sachsenhausen   Bild: Henning Harnisch
Bevor ich also der Gilles Deleuze des Sports werde und durch Begriffserfindung von mir reden mache, werde ich ein wenig Sprachforschung betreiben und mich umschauen in der weiten Welt des Sports.
Was sagt der Portugiese zum Schatzmeister? Wie nennt der Brasilianer den Schriftführer? Oder wie bezeichnet der Chinese sein Kampfgericht? Wenn ich wieder Zeit für solche Sachen habe, gehe ich das an. Bis dahin trage ich den schönen Gedanken mit mir herum, dass es schon ein Esperanto des Sports gibt. Gesprochen wird es von all denen, die einen offenen, spielerischen und schönen Sport in der Welt denken und leben. Diese Leute erkennen sich und führen jenseits von abgenutzten Begriffen ihre Dialoge als Sportler.
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Henning Harnisch
Author Henning Harnisch
Nicht Staufenberg, dennoch schön herbstlich: Sonnenuntergang in Obertiefenbach
Nicht Staufenberg, dennoch schön herbstlich: Sonnenuntergang in Obertiefenbach   Bild: Martin Vogel

Tour 3 - Tag 5: Wie findet man die eine Sportart?

Immer, wenn ich von Marburg aus mit dem Auto nach Süden unterwegs bin, kommt linkerhand die Burg Staufenberg in den Blick. Ich denke dann immer an den Schriftsteller Peter Kurzeck, der von hier stammt. Einen Augenblick im Herbst, der sich nach diesem Morgen anfühlt, hat er einmal sprachlich so eingefangen:

„Wieder Oktober und wie du dann bei den Haingärten so ein steiles Treppengäßchen vom Burgberg heruntersteigst, ein Morgengäßchen (von dem du ein paar Jahre nicht wußtest, ob es noch existiert) und die Sonne kommt durch. Gleich auch von allen Seiten die Vögel, gleich auch Bienen und Schmetterlinge. Noch früh, noch nicht einmal zehn … Der Dunst verflogen. Windstill ist es und keine Wolke am Himmel. Altweibersommer. Solche Tage, sagte ich, die gibt es. Als ob man den Atem anhält. Alles leuchtet. So hell, so weit und so still ist die Welt und wieder so einfach, wie in deiner Kindheit. Jedes Ding in seiner eigenen unverwechselbaren Gestalt. Als ob du alles wie zum ersten Mal siehst. Und doch jeden Augenblick, jeden einzelnen Augenblick wiedererkennst.“

Volleyball spielen in Wiesbaden
Volleyball spielen in Wiesbaden   Bild: Martin Vogel

Das ist ein langes Zitat, ich weiß. Zurück zur Prosa. Martin muss in Gießen eingesammelt werden. Martin, frage ich ihn, bist Du Sportler? Er zögert lange. Zu lange, finde ich. Dann sagt er: ich bin Basketballer. Und an Sport interessiert. Ich verstehe sofort. Grundsätzlich gefragt: Wann ist man dabei, wann wird man als Kind, wortwörtlich, „wer“ im Sport? Und wie findet man die eine Sportart? In der DDR wurde man dafür ausgesucht. Wir alle waren im Sportunterricht, das genügt aber nicht zum Sportlersein.

All die Sportarten, die wir auf der Straße, in der Schule oder im Hobbyraum spielten oder ausprobierten, die zählen nicht, das war etwas Flüchtiges. Ein Schritt mehr war nötig. Doch ich habe nie gesagt, ich bin Fechter. Obwohl ich in der vierten Klasse mit zwei Freunden im Fechtverein war (wie sind wir da eigentlich reingeraten?).

Mit Volleyball habe ich geliebäugelt: Eine Weile war ich regelmäßig in der Schul-AG am Mittwoch. Die Sportart war aber durch meinen älteren Bruder einerseits zu stark belegt, andererseits fehlte mir da etwas.

Als Tennisspieler habe ich mich schon gefühlt, so richtig zugehörig aber nicht in dieser Clubwelt: mit 14 Jahren bin ich dementsprechend ausgestiegen dort. Mein Kern ist und bleibt Basketball. Ich bin Basketballer. Das sage ich gerne. Yo!

Ist und bleibt Basketballer: Flying Henning Harnisch
Ist und bleibt Basketballer: Flying Henning Harnisch   Bild: Martin Vogel

Wen ich alles auf meinen Touren durch Hessen kennenlernen durfte: Rhönradturner, Ringer, Ringtennisspieler, Rennradfahrer, Reiter, Ruderer, Kanuten, Schwimmer, Turner, Leichtathleten, Basketballer, Volleyballer, Fußballer, Handballer, Hockeyspieler, Jugger, Karateka, Boxer, Kegler und Trampolinspringer.

Ich habe viel gelernt über Techniken und Tricks, über Taktiken und Strategien und über Traditionen und Kulturen. Jede dieser Sportarten hat ihren eigenen Reiz und Charme, ihre Vorbilder und Helden.

Ich bin im Verzug, merke ich gerade. Was alles noch nicht kennengelernt und mitgemacht worden ist! Tischtennis! Rugby! Tennis! Wieviel Geschichte und Geschichten in jeder dieser Sportarten steckt!

In Groß-Eichen geht es rund.
In Groß-Eichen geht es rund.   Bild: Martin Vogel

Ich bin dieses oder jenes, ich bin Handballer oder ich bin Schwimmer, das sind für die, auf die das zutrifft, seeehr identitätsstiftende Aussagen. Nur: Wie und wo und wann und warum und wer es wird, ist komplett Zufällen geschuldet; okay, mit der großen Ausnahme Fußball. Soviel zum Systemischen im deutschen Sport. 

Aber was ich die ganze Zeit sagen will: Ganz egal, welcher Sport es ist, wie gut oder schlecht, aktiv oder passiv es gemacht wird, wenn jemand es wird, ein Sportler mit einer ganz bestimmten Sportart im Gepäck, dann klärt sich eine Menge. Bestenfalls für ein ganzes Leben.

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Henning Harnisch
Author Henning Harnisch
Marburg, Postkartenansicht
Marburg, Postkartenansicht   Bild: Martin Vogel

Tour 3 - Tag 4: Ein wenig Heimspielatmosphäre

Die Oberstadt ist die Altstadt in Marburg, die sich den Hang hinaufzieht und die schon der Liedermacher Franz-Josef Degenhardt in den 60er Jahren als etwas Anzustrebendes besungen hatte: „Spiel nicht mit den Schmuddelkindern, sing nicht ihre Lieder. Geh doch in die Oberstadt, machs wie deine Brüder!“.

Uns bringt ein Zufall hierher. Eigentlich wollte ich Martin das Café „Roter Stern“ unten an der Lahn zeigen. Martin, sagte ich, so etwas gibt es in Gießen nicht. Das ist gelebtes linkes Marburger Milieu. Doch heute hat der Rote Stern zu. Stattdessen sitzen wir im Café Cappuccino in der „Barfüßerstraße“, der Gasse mit dem hübschen Namen in der Oberstadt. Wir brauchen eine Pause.

Vom Marktplatz hallt es verstärkt herüber. Gregor Gysi ist da! Nix wie hin! Es ist ein beeindruckendes Bild: Vor dem Rathaus ein Lkw mit Podium und darauf der dozierende Gysi, den Platz hoch sind bestimmt 300 (die Zeitung spricht tags darauf gar von 1000) konzentrierte Zuhörer versammelt. Junge Leute, alte Leute, typisch Marburger Leute. Marburg war schon immer eine linke, eine „rote“ Stadt, wie es damals hieß. Bis weit in die 80er Jahre hinein saß beispielsweise die DKP mit zweistelliger Prozentzahl im Stadtparlament und das Zelt, das die Kommunisten alljährlich zum ersten Mai aufstellten, galt als eine der besten Partyveranstaltungen des Jahres; auch wegen des legendären Fußballturniers (Brücke zum Sport).

Gregor Gysi vor dem Marburger Rathaus
Gregor Gysi vor dem Marburger Rathaus   Bild: Martin Vogel

Politikerreden leben von Duktus und Modulation. Ich schließe die Augen. Klatschen will vorbereitet sein und ist der dialogische Kern jeglicher politischer Rede. Gregor Gysi kann das und wir gehen.

Wir durchqueren weiter die Oberstadt gen Norden, spazieren wieder hinunter an die Lahn und entlang dieser und sind dann auch ruckzuck – Marburg ist klein – beim heutigen Ort der Abendveranstaltung, dem Hotel Welcome. Früher stand hier das Biegeneck und gegenüber am Rudolphplatz das altehrwürdige Luisabad, ein Prachtbau für hiesige Verhältnisse.

Hände weg vom Biegeneck!, skandierten viele Marburger, manch einer von ihnen neu-politisiert Anfang der 90er Jahre, als diese Ecke abgerissen und einem Hotelneubau mit Ladenpassage weichen sollte.

Kiosk in der Ladenpassage
Kiosk in der Ladenpassage   Bild: Martin Vogel
Zum Zeitpunkt der Auseinandersetzung war es ein Ort mit viel Leerstand: eine ehemalige Maschinenhalle des Unternehmens Stock Zentrifugen, Industriecharme inmitten der Studentenstadt. Ein idealer Ort, dachten die Leute, um neu bespielt und nicht um abgeholzt zu werden. Ein idealer Ort, dachten andere, um hier ein ökonomisches Zeichen zu setzen. Für ein paar Tage lag ein Hauch von Riot in der Luft der Stadt. Die Leute hatten, wie so oft, die richtige Ahnung, denn jetzt, also gerade jetzt immer noch, wo ich dort hinschaue, steht da ein Gebäude, das so langweilig ausschaut, dass es nicht einmal als Bausünde durchgeht.
Und hier im Welcome findet also unsere Abendveranstaltung statt. Rund 60 Marburger sind vor Ort, Schulleiter, Lehrer, Vereinsvertreter, die lokale SPD-Spitze, Freunde von mir – ein wenig Heimspielatmosphäre. Martin führt nonchalant durch den Abend, es gibt viele Fragen, alles bleibt gesittet und ich denke am Ende, das war doch gut hier.
Heimspiel in Marburg
Heimspiel in Marburg   Bild: Martin Vogel

Am nächsten morgen sitzen wir bei der BSJ. Ich hasse Kürzel, aber BSJ steht für: „Verein zur Förderung bewegungs- und sportorientierter Jugendsozialarbeit“. Wir sitzen also beim Verein zur Förderung bewegungs- und sportorientierter Jugendsozialarbeit am Küchentisch bei Kaffee, Tee, Plätzchen und Weintrauben und lassen den gestrigen Abend Revue passieren.

Es sind wache, fitte Leute: sport-soziologisch und pädagogisch geschult reden sie und so leben sie auch die Praxis. Der Verein betreibt zwei Bildungsstätten, ist an vielen Schulen der Region tätig und Partner aller 53 Kindergärten der Stadt. Es ist die Rede von „Nicht-Passung“, Habitus, Feld und Selbstwirksamkeit, wenn sie meine Sportidee von rechts nach links drehen. Herrlich, so macht Reden über Sport Spaß!

Am Sportinstitut hier in Marburg gibt es einen passgenauen Masterstudiengang, der Abenteuer- und Erlebnispädagogik heißt, und den manch Student als  „BSJ-Studiengang“ bezeichnet. Zu Recht, glaube ich.

Im Prinzip geht es darum, Sport und Bewegung als Mittel für die soziale Arbeit zu nutzen. Es geht um Abenteuer, Aktions- und Naturräume, es geht um die Grundformen des Bewegens, ums Klettern, Balancieren, Gleiten. Und es geht darum, selber Bewegungsgeräte herzustellen, um das Gestalten.

Es geht, in der Summe, um einen tiefen Konsens, den alle am Tisch Sitzende teilen: es geht um ein Arbeitsfeld, ohne das sich Sport, Bewegung und Gestaltung nicht weiterentwickeln werden. Am Ende reden wir noch darüber, was wäre, wenn die Stadtautobahn, die Marburg durchpflügt und dauer-beschallt, nicht da wäre. Wenn die einfach weg wäre! Was ein Aktionsraum für alle das wohl wäre?

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Henning Harnisch
Author Henning Harnisch
Unterwegs im Nebel rund um Baunatal
Unterwegs im Nebel rund um Baunatal   Bild: Martin Vogel

Tour 3 - Tag 3: Kette rechts! ...vom richtigen Fahren mit dem Rennrad

Der dritten Tour fehlt das sportliche Motto. Bewusst! Was so schön und rund begann mit der Freibadtour zum Start  –  jeden Tag ein neues Bad, jeden Tag erneut die 1000 Meter erkraulen –, das entwickelte sich zäh und schlecht weiter in der zweiten Runde: Gehen war das Thema. Schlecht ist es ergangen. Theorie und Praxis, das alte Problem. Also diesmal mottofrei durch den hessischen Herbst, so der Plan, und gucken, was kommt und geht. 

Morgen zum Beispiel steht Radfahren auf der Liste. Zuhause fahre ich immer und überall, jede Strecke, das ganze Jahr hindurch. Ich liebe es. Aber es ist Radfahren in der Stadt. Es ist Auto, Ampel und anderes Anstrengendes. Seit Jahren schon träume ich vom richtigen Fahren mit dem Rennrad. Draußen in der Weite. Ganz alleine. Je älter ich werde, desto dringlicher wird der Wunsch.

Wer schon einmal im bergigen Hinterland Liguriens oder in der Provence oder den Pyrenäen unterwegs war, kennt dieses ikonographische Bild: auf einmal taucht er auf, wie aus dem Nichts, dieser einsame, zähe Wolf. Alleine mit seinem Rennrad ist er unterwegs, asketisch wie würdig zugleich erklimmt er Berg um Berg. Ein Bild der Ruhe in der Ruhe. Woher kommt er nur, dieser edle Fahrer, wen sucht er, wo will er hin, dieser friedliche Cowboy des Mittelmeerraums? 

Vor der Abfahrt mit Timo (links)
Vor der Abfahrt mit Timo (links)   Bild: Martin Vogel

Mich hält vieles vom entscheidenden Schritt, es „zu werden“, ab. Allein die Vorstellung in einen Laden zu gehen und sich zwei Ausstattungen alter-Mann-auf-dem-Rennrad zuzulegen! Der Rennradfahrer markiert sich: Helm, Brille, hautenge Supermannkleidung, kurzer Ärmel, langer Ärmel, Klackerschuhe. Distinktionsgewinn will schließlich erkauft sein! Im Zentrum davon: das Rennrad.

Rennräder sind Fetische, sie kosten ein Heidengeld und sind deswegen oftmals Spielgerät respektive Hobby für SUV-Fahrer. Außerdem muss Brandenburg und damit das Ländliche von Berlin aus erstmal erreicht werden, da ist eine Menge Transit auf dem Weg. Und es fehlen definitiv die Berge als Ziel – in Brandenburg gibt es nichts zu erklimmen. Es gibt wirklich viele Gründe, es nicht zu tun, merke ich. Doch morgen kann ich den Kern testen. In Baunatal bin ich zum Radeln verabredet. Ohne Klamotten, die Gewinn versprechen. Ohne Radfahrschuhe. Mit geliehenem Rad und Helm. Und mit normalen Handschuhen. 

Oh, welch güldener Herbst in Hessen! In Marburg scheint schon früh um acht Uhr die Sonne und sorgt für Licht und Vorfreude. Was für ein Tag fürs Rennradfahren! Je näher wir Baunatal kommen, desto nebliger und verhangener wird es. Macht nichts, denke ich, wir sind doch Sportler. 

Im Nebel
Im Nebel   Bild: Martin Vogel

Vor dem Vereinsort der KSV Baunatal warten schon zehn Profis. Gute Gang, denke ich. Rentner sind sie, bis auf Timo, dem Geschäftsführer vom Verein, und sie haben all das an und um, was ich oben beschrieben habe. Und sie haben alle diese Rennmaschinen und spiegelglatt rasierte Beine. Boah, sehen die toll aus! Sieben Kilo wiegen ihre Räder aus Carbon. Eins davon drückt mir Timo in die Hand, einen Helm obendrein. Auffi! 

Walter, der Chef der Gruppe, erklärt mir auf den nächsten Kilometern alles rund ums Rad. Jeden Tag fährt er, ab November meist Mountainbike. Einmal in der Woche trifft sich die Gruppe und fährt vier bis fünf Stunden, 100 Kilometer oder auch ein bisschen mehr. Ab und an geht es ins Ausland, nach Mallorca oder die Partnerstädte Baunatals besuchen. 

Auf dem Rad
Auf dem Rad   Bild: Martin Vogel

Worauf muss ich achten beim Radfahren, frage ich Timo, der mittlerweile neben mir fährt, hast Du Tipps? Geradeaus gucken, sagt er trocken. Und rund treten, sagt er auch, darauf achten, dass die ganze Runde lang Kraft aus dem Fuß auf die Pedale kommt. Ich verstehe. Und verstehe, dass neue Einsichten im Sport in der Umsetzung Kopf und Körper unangenehm beschäftigen.

Was macht am meisten Spaß? In einer eingespielten Gruppe unterwegs zu sein. Windschatten fahren, miteinander eins werden. Ich frage Walter, ob sie wegen mir so verhalten unterwegs seien. Rennradfahrer antworten, indem sie fahren, merke ich. Ein bisschen wirken sie wie Segler, ihr Revier ist die Straße. Zehn Minuten später ziehen sie an – sie wissen genau, wo. Ich halte mit. Und mache den entscheidenden Fehler: ich gehe in Führung. Sich brüsten nennt sich das wohl. Und schwupps! sind zwei vorbei! Ich versuche mitzuhalten, kann aber nicht die Lücke schließen. Und bereue die ganze Aktion spätestens an der nächsten Steigung bitterlich.

Nach gut einer Stunde Fahrt durchs hügelige Baunataler Umland sind wir zurück. Diese Senioren sind fit, mein lieber Scholli! Genau so sage ich ihnen das. Sie nehmen das Lob ohne Regung entgegen, warten noch einen Moment und dann sagt einer, gut hast Du Dich gehalten, Respekt. Ich will mich schon freuen, da schließt er, dass sie dann jetzt nach dem Einfahren mal weitermüssten, drei Stunden lägen ja schließlich noch vor ihnen. Kette rechts!, rufe ich ihnen zum Abschied zu. Entweder hatten sie mich ein weiteres Mal verscheißert oder das ist wirklich der Ruf der Rennradfahrer. Google ich gleich mal. Kette rechts!

 

Song of the day

Moodymann – I Can't Kick This Feeling When ...

Kette rechts!
Kette rechts!   Bild: Martin Vogel
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Henning Harnisch
Author Henning Harnisch
Diskussion beim TuS Obertiefenbach
Diskussion beim TuS Obertiefenbach   Bild: Martin Vogel

Tour 3 - Tag 2: Form follows function - Die Form folgt der Funktion

Ich bin in den letzten Jahren in den Sport hineingeraten. In den Sport, der an den Schulen läuft und in die Vorformen davon, die es an den Kitas gibt. Ich habe den klassischen Vereinssport kennengelernt: bei Basketballvereinen, Vereinen oder Abteilungen anderer Sportarten und bei Großvereinen. Ich bin in das hineingeraten, was nicht der Profisport ist – in das grundsätzliche und normale. Ich war bei zig Vereins- und Verbandssitzungen, die immer am Abend in mehr oder weniger dunklen Räumen stattfanden und bei denen immer über Probleme geredet wurde: über das Hallenproblem, über das Trainerproblem, über das Nachwuchsproblem, über das Geldproblem.

Einen Ausblick oder einen Ausweg auf der Habenseite konnte man nach den aufgezählten Problemen nicht mit nach Hause nehmen. Ich habe stattdessen die Sportsleute aus den Vereinen abwertend von „dem Verband“ reden hören, als ob der Verband (der man ja nach der demokratischen Logik ein Stück weit selber ist) schuld an allem war. Und ich war bei so genannten Verbandstagen, an denen Paragraph 17b quer gelesen und ein Antrag dazu gestellt worden war, der dann ausführlich vor Ort diskutiert wurde. Dieser Sport ist so gut wie nie in den Medien präsent. 

Vor der Aufzeichnung des hr
Vor der Aufzeichnung des hr "Heimspiel!" in Bornheim   Bild: Martin Vogel

Jetzt sitze ich in der Sportsendung des Hessischen Rundfunks und wir reden über die Lage des Breitensports in Hessen, also über mein Thema. „Heimspiel!“ heißt die Nachfolgesendung des „Sportkalender“, mit der mein Bruder und ich jeden Sonntag von 19.15 bis 20 Uhr aufgewachsen sind und die unser hessisches Sportwissen geprägt hat.

Mit Ausrufezeichen schreibt sich der Nachfolger; man soll es wohl mit Vorfreude lesen, denke ich. Konterkariert wird die Semantik ein wenig durch die Anpfiffzeit: heute geht es am späten Abend um 22.45 Uhr los; an manchen Montagen, lerne ich, gar erst um 23.15 Uhr. Eine Sendung für die Hartgesottenen. Die Aufzeichnung findet live um 21.15 Uhr bei der TG Bornheim statt. Heimspiel! ist on tour, titelt dazu der HR online.

hr
hr "Heimspiel!"   Bild: Martin Vogel

Nach dem Abendrot sind wir nach Frankfurt gedüst, vorher waren wir beim TuS Obertiefenbach im Vereinsheim und haben dort mit Vereinsleuten aus dem Sportkreis diskutiert. Und kommen nun zu einem Vereinszentrum, was es, wortwörtlich, sportlich in sich hat: für zig Sportarten finden sich die passenden Räume. Das hier ist keine Dreifelderhalle, denke ich, das hier ist form follows function. Auch deswegen, vermute ich, hat die TG Bornheim über 30.000 Mitglieder und ist damit einer der größten deutschen Sportvereine.

Der Vereinsort und die damit verbundene Atmosphäre wirken, als ob wir in der Zukunft gelandet wären und einer perfekten Umsetzung der Sportidee beiwohnen. Oder eine Versuchsanordnung erleben, die sagt: so könnte das in Groß laufen. Es ist ein wenig surreal. Oder sind wir surreal gestimmt, Martin? (Martin, frage ich beim Schreiben des Textes im Auto, im Stau auf der A5, bist Du manchmal surreal gestimmt? Längeres Schweigen. Das ist eine sehr gute Frage, sagt er. Das kann ich nicht so einfach beantworten.) 

Aus dem Dunkel Bornheims Straßen kommend, werden wir am Eingang vom Redakteur begrüßt und in den ersten Stock geführt, wo ein sehr modernes und sehr ausgeleuchtetes Fitnesscenter wartet. Alle gucken auf uns. Sind wir etwa Popstars? Eine Moderationstheke ist vor den Fitnessgeräten, an denen schwer gewerkelt wird, aufgebaut. Ältere, wache Damen und Herren in Sportkleidung, sitzend und stehend, rahmen das Geschehen.

Das Fernsehen fährt richtig auf: bestimmt vier Kameras, gefühlt zehn Leute dahinter, Licht, Maske vor Ort, Aufnahmeleitung, das ganze Programm. Mit mir ist der Vorstand der TG, Peter Völker, am Tisch und Jake Hirst, aufstrebender Stürmer der Kickers Offenbach. Ich versuche, Würde zu wahren. Jeder, der schon einmal im Fernsehen war, weiß um die Schwierigkeit dieser Aufgabe. Hier fällt es recht leicht. Wir dürfen unsere Rollen in Ruhe spielen.

Reicht das schon, um zufrieden zu sein? Martin erzählt mir, dass normalerweise „Heimspiel!“ gar nichts außer dem Profi- und Halbprofifußball auf der Tagesordnung habe: dieser wird rauf und runter genudelt, bis hin zu Extrasendungen, die bei Testspielen der Eintracht in Utah zwei Stunden – live! – vor Ort dabei sind und (über was?) berichten. Ich glaube ihm sofort, in den anderen Sportsendungen der Öffentlich-rechtlichen ist es nicht anders.

hr
hr "Heimspiel!"   Bild: Martin Vogel

In der Sendung schon frage ich mich, wie konnte es soweit kommen, was ist aus dem medialen Sport meiner Jugend geworden? Wie viel reiche und satte Erzählungen über wie viele Sportler und Sportlerinnen aus wie vielen Sportarten und Sportereignissen gab es da! Ich werde einen Teufel tun und hier versuchen, zeitgemäße Antworten auf diese Frage zu finden. Aber alle Sportler, nicht nur in Hessen, sollten sich fragen, ob sie sich medial gespiegelt und erzählt fühlen.

 

Song of the day 

Nathan Bowles – Now If You Remember

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Henning Harnisch
Author Henning Harnisch

Tour 3 - Tag 1: Menschenrecht Sport

Hessentour, Teil III. 14 Tage Finale liegen vor mir. Grundsätzliches vorneweg:

Im Sport ist die Lage so, dass Kinder nicht mehr einfach auf Bäume klettern oder Spiele spielen oder gar in einen Verein gehen. Umso wichtiger, dass wir sie auf neue Art und Weise in diese Welt hineinführen und ihnen sowohl einen Rahmen geben, als auch geeignete Mittler anbieten, auf dass sie selber ihre Rolle und ihren Platz dort finden. Wahrscheinlich müssen wir in Zukunft noch viel mehr Zeit und Kraft investieren, um die Kinder zum Spielen zu bringen. Das kann man beklagen oder als spielerische Aufgabe annehmen, dem Zufall überlassen sollte man es aber nicht. Denn wenn sie erst einmal dabei sind, so meine Erfahrung – ob groß oder klein, ob Mädchen oder Junge – dann wollen auch heutzutage alle (mit-)spielen. 

Im Trampolinpark in Wiesbaden
Im Trampolinpark in Wiesbaden   Bild: Martin Vogel

Gleich zwei deutsche Städte, Berlin und Hamburg, hatten sich 2015 für die olympischen Sommerspiele 2024 beworben. Ich habe die Bewerbungsphase recht genau verfolgt und mich ab einem bestimmten Punkt ernsthaft gefragt: warum? Warum bewirbt sich da wer? Was ist die Idee dahinter? Ohne Ideen begeistert man keine Leute und entstehen keine Perspektiven. Vielleicht ist es ja am Ende gar ein Glück, dass es für die Bewerbungen keine oder zu wenig Zustimmung gab. So gibt es sehr viel offenen Raum, um eine logische Sportidee für alle von unten zu denken und diese in den nächsten Jahren umzusetzen.

Boxen mit Reinhard Jassmann in Korbach
Boxen mit Reinhard Jassmann in Korbach   Bild: Martin Vogel

Die Ganztagsschule verändert das Sportgeschehen fundamental. Dadurch sind immer mehr Sportangebote der Vereine unlogisch und werden nicht wahrgenommen. Der Sportlehrer hat sich (hier bestätigt wie immer die Ausnahme die Regel) ins Abseits stellen lassen und harrt der Dinge in seiner Umkleide, anstatt sich mit den Sportvereinen der Region zu verbrüdern und gemeinsam mit ihnen Kindergarten und Ganztagsschule zu erobern.

Erzieher sind normalerweise strukturell gar nicht mit einbezogen in das Sporttreiben in einer Region. Der Schulsport entwickelt keine Kraft, um, im Bündnis mit Musik und Kunst, ein Gegengewicht zu den Pisa-Fächern zu sein. Die Vereine überfordert die neue Schulsituation größtenteils – welcher Ehrenamtler kann aber auch mittags, also mitten am Tag, für eineinhalb Stunden für eine Sport-AG an die Schule kommen?

Und die Fußballvereine stammen zwar aus dem Land des Ex-Weltmeisters, haben aber auch keine neuen Ideen, wie man 15-jährige, die nicht Profi werden, weiterhin im Spiel hält. Vor allem aber gibt es zuhauf Gegenden in Deutschland, da gibt es gar keine vernünftigen Sportangebote für Kinder, für die Mädchen und Jungen, ob in der Schule oder im Verein. Da wächst man nicht in den Sport oder gar in einzelne Sportarten hinein. Da wächst man, sportlich betrachtet, in gar nichts hinein. 

Fußballer in Fulda-Aschenberg
Fußballer in Fulda-Aschenberg   Bild: Martin Vogel

Es ist der Stadtrand mit Hochhäusern und Plattenbauten, der in den Blick kommt, und es ist das Land, sei es flach oder hügelig, wo nichts, bestenfalls viel zu wenig läuft. Vor allem hier setzt die Sportidee an und vor allem hier muss das Menschenrecht Sport von ganz unten gedacht und umgesetzt werden und vor allem hier muss das aus den Orten, wo (hoffentlich) alle sind, aus dem Kindergarten und der Schule, gedacht und hergestellt werden. Dem Sport werden in diesem Zusammenhang (oder wenn Geld ins Spiel kommt) gerne Sekundärtugenden zugesprochen. Begriffe wie Integration oder Gewaltpräventation fallen dann. Aber: Die weite Welt des Sports kennenlernen und Sportspiele lernen – das ist der Wert (und das Geld wert)! 

Rollstuhlbasketballer der Rhine River Rhinos Wiesbaden
Rollstuhlbasketballer der Rhine River Rhinos Wiesbaden   Bild: Martin Vogel

Kinder und Jugendliche riechen, wenn jemand kommt und sagt: Lasst uns etwas machen, ich bin hier bei Dir, weil Du ein Problem bist. Etwas anderes ist es, wenn jemand kommt und sagt, hey, habt ihr Lust, wollen wir etwas Großes starten? Genau das zeigt der Dokumentarfilm „Rhytm is it“ für das Beispiel Musik und Tanz. Ein Jahr lang probten „Trainer“ der Berliner Philharmonie aus dem Nichts mit 250 Kindern und Jugendlichen einer Neuköllner Schule ein Stück ein. Unfreiwillig zeigt der Erfolg des Stücks und des Dokumentarfilms das Problem: warum nur diese 250? Warum nur ein Jahr? Warum nicht dauerhaft Projekte und Zugänge von Klein auf, für Musik, Tanz, Theater, Film, Kunst und Sport? Für alle.

 

Song of the day

Public Enemy – Fight The Power

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Henning Harnisch
Author Henning Harnisch
Ein Blick auf den Sonnenaufgang in Gießen
Ein Blick auf den Sonnenaufgang in Gießen   Bild: Martin Vogel

Tour 2 - Letzter Tag: Marburg vs. Gießen

Heute ist wieder letzter Tag. Nachher geht es mit dem letzten Flieger zurück nach Berlin. Wow, das hört sich nach Business und wichtig  an, ist aber leider so. Ich sitze im Café de Paris in Gießen. Fängt das Semester nächste Woche an? Um mich herum wird über Vorlesungsverzeichnisse und Blockseminare gesprochen.

Das Café ist wichtig geworden auf der fast zum Alltag gewordenen Reise durch Hessen. Martin kannte den Laden, war aber noch nie drinnen. Er wohne ja auch um die Ecke, sagt er. Klingt so Logik? Es hat Stil, gute Produkte und Leute, die dort gerne arbeiten. Gießen ist ein wichtiger Anker geworden, merke ich gerade. Es liegt schön mittig in Hessen und Martin kommt hier her. Er hatte es sofort prophezeit. Du wirst Gießen mögen! Gießen? Ich mag es, wenn Menschen um etwas kämpfen. Martin ist auch Reiseführer, merke ich gerade. Kriegt er von der Stadt Geld dafür?

Das Stadttheater in Gießen
Das Stadttheater in Gießen   Bild: Martin Vogel

Marburg und Gießen liegen beide an der Lahn, Marburg knapp 30 Kilometer nördlich, sind ähnlich groß und sind beides Universitätsstädte mit Theater. Aber das war es dann auch schon mit Gemeinsamem. Ok, das Klinikum teilt man sich. Sonst sind die Städte sehr unterschiedlich. Es gibt noch nicht einmal eine sportliche Konkurrenz zwischen den Orten, kein einziges klassisches Derby. Wie zwischen Frankfurt und Offenbach. Oder Battenberg und Allendorf/Eder.

Von 1985 bis 1988 war ich Spieler beim MTV Gießen. Diese drei Jahre fuhr ich auf der alten B3, bevor sie autobahnähnlich zur schnellen Verbindung wurde, von einer Welt in die andere. Die Sporthalle Ost war das inhaltliche Zentrum, von dem aus es nach und nach an die Erkundung einer für mich neuen Stadt ging. Sagen wir es mal so: Gießen war aufregender und lustiger als Marburg.

In Gießen wusste und weiß Mann und Frau zu feiern! Allein das ist in diesem Zusammenhang eine Erwähnung wert: in Gießen wird Fasching gefeiert, in Marburg nicht. Und Gießen war proletarischer und hatte keine einzige Postkartenansicht zu bieten. Ignoranten schlossen damals wie heute daraus, dass Gießen hässlich war und ist – so what! Gießen hatte und hat Seele. Punkt.

Marburg, Postkartenansicht
Marburg, Postkartenansicht   Bild: Martin Vogel

Und Gießen hat das Café de Paris. Postkartenansichten gibt es natürlich noch immer nicht, wobei: an der Lahn ist es ähnlich schön wie in Marburg. Und Gießen hat zum Beispiel Vinod und Giancarlo. Zwei Weltklassebürger können eine Menge mehr als Postkartenansichten in einer Stadt bewirken. Vinod ist Weltklassefriseur und schon eingeführt (siehe Tour 2, Tag 7). Giancarlo ist Weltklasseitaliener und der Chef des Gianoli in der Gießener Innenstadt und muss unbedingt eingeführt werden. Vinod und Giancarlo eint: sie sind Typen. 

Bei Vinod und den Haarstylisten in Gießen
Bei Vinod und den Haarstylisten in Gießen   Bild: Martin Vogel

Und wenn Typen einen Laden mit einer Idee rund um Qualität machen, dann wird jede Stadt lebens- und liebenswerter. Martin bestellt bei Giancarlo immer die Sportlerportion. Martin, so wird man kein Sportler, das reicht nicht! Wer ins Gianoli kommt, ist auf einer wichtigen Bühne der Stadt. Und wie überall in Hessen sollte man schlagfertig sein, wenn die Bühne betreten wird.

Giancarlo hatte uns VIP-Karten für das Spiel des FC Gießen gegen Eintracht Stadtallendorf versprochen, Hessenpokal. Ich wollte da allein wegen dem VIP-Raum und dem altehrwürdigen Waldstadion hin. Wir hatten uns dann aber beim Rudern bei Hellas festgequatscht und den 3:0-Heimsieg nach Verlängerung verpasst. Der FC Gießen, aus der Fusion des traditionsreichen VfB und dem Vorortclub Teutonia Watzenborn-Steinberg hervorgegangen, ist Thema in der Stadt. Wie auch die Basketballer sowieso immer Thema sind.

Marco, Kellner bei Giancarlo, und vorher bei der Italienerinstitution Pizza Pie zugange, weiß alles über Basketball und Basketballer. Wer ist der beste deutsche Spieler aller Zeiten, fragt er. Will er mir schmeicheln? Dirk Nowitzki, sage ich, so wie man sagt, wer damals ans Kreuz genagelt worden ist. Er schüttelt den Kopf. Mike Koch, sagt er bestimmt. Mike Koch stammt aus dem Bierort Lich, mit ihm habe ich meine ganze Sportlerkarriere verbracht. Er ist auch ein Typ, echter Mannschaftssportler und in Gießen zur Schule gegangen.

Marco hat Argumente: Mike war sieben Jahre in Griechenland, die längste Zeit davon bei Panathinaikos und ist dort Serienmeister und Europapokalsieger geworden. Mit Giancarlo und Marco kann man stundenlang über Basketball reden. Als ob das ganz normal wäre. 

An der Lahn in Gießen
An der Lahn in Gießen   Bild: Martin Vogel

Im Café de Paris bleibt es voll. Wie habe ich hier einen Text schreiben können? Die Studentinnen nebenan reden von den superheißen Typen. Ich höre da nicht zu, ich schwöre! Heute ist der letzte Tag der zweiten Tour. Wie die Zeit vergeht! Ich fühle mich müde und zerknautscht. Dieses ewige Autofahren! Diese Rumsitzerei! Dieser nicht gemachte Freizeitsport!

Gehen wollte ich thematisieren, das war der Plan. So wie ich vorher schwimmen in den Freibädern Hessens war und das reflektiert habe. Stattdessen war ich konsequent nicht gehen. Vielleicht mal eine Stunde durch Sachsenhausen schlendern, durch die Altstadt von Gelnhausen flanieren oder einmal vom Elternhaus in Cappel nach Marburg laufen. Oder in Gießen vom Gianoli ins Café de Paris. Es hat ansonsten einfach nicht gepasst oder nicht geklappt.

Stattdessen gebe ich anderen Leuten Ratschläge zum Thema Gehen. Wenn du acht Termine am Tag hast, sollte einer davon ein Spaziergang sein. Hen Ning Har Nisch. Ich glaube, ich muss nach Hause.

 

Song of the day

Chastity Belt – Different Now

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Henning Harnisch
Author Henning Harnisch
Anzeige aus der
Anzeige aus der "Oberhessischen Zeitung" vom 8. Juli 1888   Bild: Archiv Uwe Herrmann

Tour 2 - Tag 10: Der Marburger kennt Uwe

Ich treffe mich am Vormittag mit Freund Uwe in der Oberstadt von Marburg auf einen Kaffee. Er hat zuvor am Morgen für die anstehende Wanderung, an der ich ja nicht teilnehmen kann, trainiert, ist mit Rucksack auf dem Rücken vom Schloss runter und wieder raufgelaufen. Dreimal runter, dreimal hoch. Ich konnte nicht dabei sein.

Uwe ist ein Mann von Welt. Aus einer Welt, die es so nicht mehr gibt oder eventuell nie wirklich gegeben hat. Manchmal denke ich, er hat heute drehfrei. Der Marburger kennt Uwe. Von den späten 80ern bis Mitte der 90er Jahre hat er das erste und einzige mediterrane Lebensmittelgeschäft der Stadt geführt (das nie durch etwas Vergleichbares ersetzt worden ist). 

Was jedoch nicht viele Marburger wissen: Als Jugendlicher war er Kraftsportler beim AC 1888 Marburg. Gewichtheben hat er gemacht, Olympischer Zweikampf, reißen und stoßen. Nicht mehr viele betreiben das noch heutzutage, sagt er. Jetzt mache man, wenn man denn so klassisch im Kraftsport unterwegs sei, fast nur noch Kraftdreikampf: Bankdrücken, Kniebeugen und Kreuzheben.

Uwes Vater war auch schon im Verein. Wie auch sein Großvater. Der war deutscher Meister als Rasenkraftsportler. Hammerwerfen, Gewichtwerfen, und Steinstoßen sind dort die Disziplinen. Und sein Urgroßvater war einer der Gründungsmitglieder des Vereins. Sein Ururgroßvater...

Ganz rechts Uwe Herrmanns Großvater
Ganz rechts Uwe Herrmanns Großvater   Bild: Archiv Uwe Herrmann

Mit 10 Jahren, was sehr früh ist, hat er angefangen mit dem Kraftsport. Im Kraftsport trainieren alle zusammen, vom Kind bis zum Senior. Damals waren das nur Jungs und Männer. Heute sei das ein wenig anders. 20 bis 30 Leute waren im Training, viermal in der Woche, manchmal gar fünfmal kamen sie zusammen. Der Verein liegt ein wenig versteckt bei Sankt Jost an der Stadtautobahn.

Manchmal geht Uwe noch hin, um Hallo zu sagen. Die Alten trainieren immer noch, immer noch viermal die Woche, sagt er. Ein schönes Bild, finde ich: 80-jährige, die sich treffen und sich mit leichten Gewichten fit halten und dabei den ein oder anderen Schwank zum Besten geben. 

Uwe ist deutscher Meister in der Jugend gewesen. Gewichtsklasse: Leichtgewicht. Bis 67,5 kg. Im Reißen schaffte er 100 kg, im Stoßen 132,5 kg. Der erste Versuch war total in die Hose gegangen. Das war der Höhepunkt seiner Karriere. Bevor es richtig losgegangen ist: Knieprobleme mit 18 Jahren. Er probierte es noch ein paarmal, aber es ging nicht mehr. Jahrelang, sagt er, war ich frustriert, richtig frustriert. 

Uwe Herrmann im Wettkampf
Uwe Herrmann im Wettkampf   Bild: Archiv Uwe Herrmann

Im Kraftsport trainiert man für den Augenblick. Die Schnellkraft ist, neben der puren Power und der Technik, der Schlüssel, explosionsartig – zack! – muss es passieren. Drei Versuche hat einer. Das ist alles. So ein Wettkampf dauert zwei Stunden. Eine ewige Warterei ist das.

Im Aufwärmraum wird sich beschnuppert. Ein bisschen Show und Sprüche sind auch dabei. Dann wirst du aufgerufen, in drei Minuten muss der Versuch stehen. Das kenne ich aus dem Fernsehen, diese konzentrierte Ruhe. Wie sehr die auf einer Bühne sind. Die vier-mal-vier-Meter große Plattform ist meist mit Holzbohlen belegt. Da, wo die Hantel aufliegt, wird noch eine extra Gummimatte aufgelegt.

Selbstredend haben Kraftsportler ihre Rituale kurz vor diesem Augenblick. Wie sie die Gewichtheberschuhe schnüren und den Gürtel fester ziehen. Wie sie die Bandagen um die Handgelenke wickeln. Wie sie die Hände in den Magnesiabottich tauchen. Wie sie Eukalyptusöl schnuppern oder von der Hand ablecken. Es gab auch welche, sagt Uwe, die hätten sogar Salmiak oder Ammoniak geschnüffelt. Manch einer hat sich mit Urschrei in diese ganz spezielle Stimmung gebracht. Dann wird alles eins, Muskeln und Geist. Der Gang zur Hantel. Das Umfassen und Festklammern. 

Uwe Herrmann im Wettkampf
Uwe Herrmann im Wettkampf   Bild: Archiv Uwe Herrmann

Was hat am meisten Spaß gemacht? Die Kameradschaft unter den Sportlern. Er sagt wirklich Kameradschaft. Nach den Mannschaftswettkämpfen ist man danach immer miteinander essen gegangen. Darauf haben sich alle gefreut. Wo gibt es das denn noch im Sport?, frage ich mich gerade.

Der Verein und der Sport waren für Uwe ein sehr wichtiger Anker in der Jugend. Sein Trainer Armin, sagt er jetzt, zurückblickend, habe Werte vermittelt. Zielstrebig eine Sache verfolgen, dass man was erreichen kann, wenn man sich anstrengt – das habe er da auch gelernt. Und eine ganz bestimmte Körperspannung kriege man, die sorge für Stabilität. Uwe ist ein feiner Kerl, denke ich nicht erst seit heute.

 

Song of the day

Serpentwithfeet – Messy

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Henning Harnisch
Author Henning Harnisch
Jugger in Darmstadt
Jugger in Darmstadt   Bild: Martin Vogel

Tour 2 - Tag 9: Jedes Sportspiel ist eine tolle Erfindung der Menschheit

Mannschaftssportarten folgen den Regeln der Spiele. Generell spielt man nur das eine ausschließlich mit dem Fuß, bei allen anderen Sportspielen sind Hand, Ball und manchmal auch ein Schläger involviert, um Handlung herzustellen. Warum gerade Fußball das dominante Spiel in der Welt geworden ist, kann nicht allein am Spiel liegen. Der Fuß, dieses menschliche Mangelinstrument!

Wir sprechen nicht von fußeln oder füßeln, wenn wir handeln. Der Sport hat viele Zugänge, im Idealfall finde ich selber heraus, was mir gefällt und was ich machen will und kann. Sportarten sind Angebote. Hoch attraktiv sind in diesem „Wettbewerb“ die Spielsportarten, weil sie in der Mannschaft gespielt werden, weil (einige von ihnen) gerade auch medial weit verbreitet sind und weil sie eben ein Spiel sind. 

Beim Jugger in Darmstadt
Beim Jugger in Darmstadt   Bild: Martin Vogel
Jedes Sportspiel ist eine tolle Erfindung der Menschheit. Basketballkörbe, die auf 3,05 Meter in der Luft hängen - darauf muss man erst einmal kommen. Es waren zwei Pfirsich-Körbe, die der kanadische Didaktik-Professor James Naismith 1891 an die Empore der Sporthalle des YMCA in Springfield, Massachusetts, anbringen ließ.
Die Sportart Basketball war, so die Geschichtsbücher, eine Auftragsarbeit. Der Institutsleiter beauftragte Naismith, einen (Winter-)Ausgleich zum brutalen, weil extrem beengten Football in der Sporthalle zu finden. Und Professor Naismith fand die Lösung - ein Spiel für die Sporthalle mit einem Ziel in der Höhe: Basketball.
Kampfszene im Jugger
Kampfszene im Jugger   Bild: Martin Vogel

Jedes Beispiel dieser kulturellen Errungenschaften ist gleichzeitig zugestellt, von seiner Geschichte, seinen Geschichten und von seiner Tradition. Im Gemeinfall denken wir nicht mehr darüber nach, wie die Sportspiele ursprünglich einmal entstanden sind, was der jeweilige Antrieb oder die Gemengelage war, wie archaisch und wild das jeweilige Spiel betrieben wurde. Was schaufeln wir frei, wenn wir Basketball, Fußball oder Volleyball unter die Lupe nehmen? Warum setzen sich einige Spiele, wie die genannten, weltweit durch, während andere, wie Pelota, ausschließlich regionale Bedeutung haben oder Spiele wie Cricket oder Handball nur in bestimmten Ländern dieser Welt gespielt werden?

Spiele wandern durch die Welt, hier werden sie aufgegriffen, dort sterben sie aus. Jedes Spiel ist in einer bestimmten historischen Konstellation entstanden und entwickelt sich im Kontext von Politik, Wirtschaft und Kultur weiter. Eine Geschichte der modernen Sportspiele ist eine Geschichte von Klassen, entstehendem Bürgertum und Kolonisation; sie ist gleichzeitig immer auch eine Geschichte von Medien und deren Verbreitung. 

Ringtennis in Roßdorf
Ringtennis in Roßdorf   Bild: Martin Vogel

Andererseits ist eine Geschichte der Sportspiele eine Geschichte der inhaltlichen Entwicklung der Spiele und der sich kongenial mit diesen Spielen entwickelnden Spielern. Zu jedem Spiel gibt es einen Stand der Dinge - wie spiele ich es, wie spielen es die besten der Spieler und wie und was die besten der Mannschaften. Sportspiele sind wie ein Palimpsest zu lesen, sie werden permanent „überschrieben“; durch kluge Trainer und Spieler, durch deren Taktiken und Strategien.

Spiele sind dafür da, bearbeitet  zu werden. Die Semantik der Spiele fußt auf Regeln und den Interpretationen dieser. Wenn es um das große Gewinnen geht, erzeugen Spiele und ihre Regeln auf jedem Spiellevel eine große Spannung. Nicht erst dann kommt der Schiedsrichter, der Hüter der Regeln (oder vielleicht sollten wir lieber sagen: der Hüter des Spiels) ins Spiel. Er wacht darüber, wie weit die Regeln ausgelegt werden können. Er entscheidet, was zugelassen oder unterbunden wird. Wenn die Regeln jedoch wirklich ausgereizt sind, dann kommt die Regeländerung und das Spiel verändert sich (wieder). 

Manch Text schreibt sich wie von selbst. Wir waren heute in Darmstadt bei den Juggern. Und wir waren danach in Roßdorf beim Ringtennis. Tolle Spiele!

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Henning Harnisch
Author Henning Harnisch
In einer Sporthalle in Gelnhausen
In einer Sporthalle in Gelnhausen   Bild: Martin Vogel

Tour 2 - Tag 8: Jede Sporthalle und jeder Fußballplatz fühlen sich anders an

Zurück in Frankfurt. Zwei Nächte bin ich dort. Freund Willi nimmt mich wieder bei sich auf. Larissa, seine Frau, auch, sie liest den Blog (siehe Tag 7, Tour 1) und fragt mich, wie lange ich zu bleiben gedenke? Höre ich da Ironie heraus? Heute morgen wollte ich mit Willi um die Häuser ziehen. Einfach eine Stunde spazieren gehen. Doch es regnet so, dass man sich schon vom Zusehen klatschnass fühlt. Also sitzen wir in ihrem Reihenendhaus in Sachsenhausen, das ein Zen-Architekt eingerichtet haben muss, trinken Kaffee, hören passende Musik und arbeiten. So bin ich gerne on the road.

Für Menschen wie Willi ist das Wort herzensgut erfunden worden. Er gehört zu den Freunden, die ursprünglich aus Marburg stammen und die sich jedes Jahr treffen, um wandern zu gehen. Dieses Jahr habe ich ihnen abgesagt, sie werden dann Anfang Oktober durchs Lahntal gehen. Gerade bearbeitet er, der Fotograf, Menschen digital nach. Ich habe währenddessen meine Übungen gemacht. Er hat das zum Anlass genommen über alles zu reden, was gerade wichtig ist. Unter anderem findet er es eine gute Idee, nicht wandern zu gehen. Wir alle finden, dass Willi mehr gehen sollte. 

Am Samstag war der erste freie Nachmittag. Und es hat nicht geregnet. Mir entgeht auch nichts. Zwei Stunden bin ich Sachsenhausen rauf und runter gelaufen, der Main lieferte die Orientierung. Gregor, Willis Sohn, hatte derweil ein Auswärtsspiel mit dem SV Sachsenhausen, sie haben in Ahrheim, einem nördlichen Vorort von Frankfurt, gegen die SG gespielt. Vater und Sohn kamen kurz nach mir nach Hause, Gregor noch im Trikot. Larissa und ich standen am Fenster und guckten fragend zu ihnen herunter. 5 zu 0 gewonnen. Sie strahlten. 

Willi, was zeichnet Auswärtsspiele aus? Der freundliche Empfang, oft mit Kaffee und Kuchen, und die Anfeindungen von den Gastgebern, falls es zum Auswärtssieg kommt. Willi lacht. Die fühlen ihre Gastfreundschaft missbraucht. Natürlich der Klassenfahrtcharakter, der damit verbunden ist.

Beim SV Sachsenhausen trifft man sich am Verein. Auch so ein Klassiker, dass die Eltern fahren. Willi fährt immer. Ihm gefällt, wer da mit ihm im Auto sitzt und was die Kinder – fast Jugendliche – sich erzählen, wenn sie sich was erzählen. Meist ist es wie im Fahrstuhl, sagt er, die Kinder schweigen viel. Er fragt sich wirklich, ob es an ihm liegt, dass sie so sind. 

Heute alles umsonst
Heute alles umsonst   Bild: Martin Vogel

Wie viele Spiele wohl am Wochenende in Hessen stattfinden? Allein im Fußball unfassbar viele. Und ein Team ist immer die Auswärtsmannschaft. Die Regelmäßigkeit, in der einer während der Saison und über die Jahre lokal verreist, fördert Rituale.

Wie beginnt der Tag? Wann findet das Spiel statt? Was packe ich in meine Tasche? Wo treffen wir uns? Wie man sich dann beschnuppert, wenn man in die Halle des Gegners kommt. Das Aufwärmen der anderen, die gegenseitigen Blicke, hier ein leichte Nicken, dort ein herzliches Schwätzchen. Gibt es Musik? Wer ist der Schiedsrichter? Ein Freund erzählte mir kürzlich, dass sein Bruder erst dann für ein Auswärtsspiel bereit war, wenn er die Toilette der Sporthalle besucht hatte, um dort zu scheißen.

Sportler erarbeiten sich über die Jahre eine ganz eigene Mental-Geographie ihrer Heimat. Es ist nie nur der Ort des Spiels, der erlebt werden will, auch die Anfahrt und die nähere Umgebung erzählen mit. Parkplätze, verschlossene Hallentüren am Sonntagmorgen und Hausmeister gehören dazu, ebenso wie Umkleiden, Kaffee und Kuchen (oder auch nicht) und Tribünen (oder auch nicht).

Jede Sporthalle und jeder Fußballplatz fühlt sich anders an. Ein Hauch Tristesse ist oft im Spiel, wenn man sich ihnen nähert. Denn meist liegen diese Orte an der Peripherie und haben einen dementsprechend bestimmten respektive bestimmenden Kontext. Und man merkt ihnen an, wenn sie zu selten bespielt sind. Dann bekriegt einen ein übertriebenes Gefühl von Sonntag. 

Martin und ich knobeln. Büdingen oder Gelnhausen? Gelnhausen! Es ist Sonntag, früher Nachmittag. Perfekte Stimmung für ein Auswärtsspiel. Die Nachrichten sprechen von einem drohenden Sturm. Vorher kommt die Ausfahrt Gelnhausen. So wie wir vor Wochen, damals noch im Sommer, auf gut Glück ein Fußballspiel gesucht haben, so suchen wir jetzt das eine Spiel in der Halle. Wir werden direkt fündig: die Großsporthalle ist direkt nach der Abfahrt ausgeschildert. Ein ganzes Sportzentrum kommt in den Blick: mehrere Hallen, Fußballplätze, ein Leichtathletikstadion.

Harald Schmid, der große 400-Meter-Hürden-Läufer startete immer und ewig für den TV Gelnhausen, fällt mir gerade ein, und ich ziehe den imaginären Hut vor ihm!

Handball in Gelnhausen
Handball in Gelnhausen   Bild: Martin Vogel

Sporthallen sind intimer als Fußballplätze. Sie liegen meist versteckter und wenn man ohne Team hineingeht, dann fühlt man sich so, als ob man seinen Personalausweis vergessen hat, der gleich beim Hausmeister vorzuzeigen ist. In der Bezirksliga D der Herren im Handball, Region Offenbach-Hanau, spielt der TV Gelnhausen IV gegen HSG Maintal. Warum hat bei diesem Spiel der Kiosk offen?

Die Wände der Vierfelderhalle mit den vielen Sponsorennamen sagen, dass hier regelmäßig höherklassig gespielt wird. Das Licht ist trübe. Quietschende Schuhe auf PVC-Boden. Eine Menge Jahre stehen da auf dem Feld. Wäre ich ein Dokumentarfilmer, würde ich jetzt reihum fragen, warum sie das machen, was sie da machen.

Wir schauen noch kurz beim Fußballplatz nebenan vorbei. Sind wir gefährdet, Groundhopper zu werden? Martin hatte gestern Geburtstag und trägt seinen neuen Rucksack, der nach SUV aussieht. Der eine Mann am Kassenhäuschen nickt in Richtung eben dieses Rucksacks und fragt Martin, ob er der Schiedsrichter sei.

Hier spielt gerade der 1. FC 03 Gelnhausen II gegen die SG Sotzbach/Bierstein in der Kreisliga A Gelnhausen. Der Mann neben mir erzählt mir, dass eben der Torwart den Führungstreffer zum 3 zu 2 geschossen hat, aus dem eigenen Feld heraus. Ich sage, das ist ja Hessenschau! Er nickt. Haben Sie das gefilmt? Nein, antwortet er, er habe ja nicht wissen können, dass etwas passieren würde.

Der Keeper der SG Sotzbach/Bierstein
Der Keeper der SG Sotzbach/Bierstein   Bild: Martin Vogel
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Henning Harnisch
Author Henning Harnisch
Im Bootshaus des Weilburger Rudervereins
Im Bootshaus des Weilburger Rudervereins   Bild: Martin Vogel

Tour 2 - Tag 7: Verweilen in Weilburg: Miteinander draußen in der Natur

Heute sind wir fast wieder fit. Da kann Martin noch soviel mit den Taschentüchern wedeln und dabei traurig gucken. Wir waren eben bei der Leichtathletik in Niederselters und wollen gegen Mittag zum Reiten in Obertiefenbach sein. Dazwischen liegt, zeitlich gesehen, Weilburg. Wir besuchen den lokalen Ruderverein. Pittoresk ist es hier, mit Wehr zur Rechten und gegenüberliegendem Schloss auf dem Hügel, prächtige Bäume hier wie dort. Weilburg besitzt übrigens den einzigen Schiffstunnel Deutschlands. 

Ein Verein ist abstrakt, Hans-Werner ist konkret. Er zeigt uns seinen Verein und erzählt die Geschichte dazu. Und sagt, Lehrer reden zuviel, die muss man stoppen. Hans-Werner ist Sportlehrer. Er ist Pensionär, aber seine Passion, das Rudern, hält ihn an der Schule.

Bei meiner ersten Tour hatte ich Hellas, einen der drei (!) Rudervereine in Gießen besucht. Wir sprachen dort über den mangelnden Nachwuchs. (Hier nur am Rande: Rudern ist ein Füllwort. Deren Sorgen um den Nachwuchs betrifft alle Sportarten jenseits von Fußball. Jede.) Ich fragte da, wie viele weiterführende Schulen es in der Stadt Gießen gäbe. Fünf. Und dann kamen wir zusammen darauf, dass es Jahr für Jahr rund 1000 Siebtklässler in Gießen geben müsste. Was wäre, fragte ich, wenn all diese Kinder jedes Schuljahr ihre Stadt aus einer gänzlich neuen Perspektive, nämlich vom Wasser aus, kennenlernen dürften? Fünf Stunden Rudern für alle zum Beispiel. Das wäre fortschrittlich.

Auch ich bin an der Lahn aufgewachsen, doch erst mit 50 Jahren werde ich heute Abend, wenn denn das richtige Boot für 2,02 Meter gefunden wird, zum ersten Mal in einem richtigen Ruderboot auf dem Wasser sein. Mit 50! 

Mit Hans-Werner (Mitte) und SPD-Landtagsabgeordnetem Tobias in Weilburg
Mit Hans-Werner (Mitte) und SPD-Landtagsabgeordnetem Tobias in Weilburg   Bild: Martin Vogel

Hans-Werner erzählt uns im hier und jetzt in Weilburg, dass in jedem Schuljahr alle Siebtklässler des Gymnasium Philippinums in Weilburg bei ihm im Sportunterricht Rudern lernen würden. 150 Kinder sind das jedes Jahr. Gerade kommt eine Klasse. Ohne dass Hans-Werner groß etwas sagen müsste, packen alle an und zu und tragen zusammen die mächtigen, edlen Boote zu Wasser und steigen, indem sie sich klare Anweisungen geben, ins kipplige Boot.

Vorher habe ich in die Runde gefragt, was ihnen am meisten Spaß machen würde beim Rudern? Das Rudern, die Bewegung macht am meisten Spaß. Dass es nicht in der Halle ist, sondern draußen in der Natur. Das Miteinander. Und weg sind sie. 

Wir machen Zwischenstation in Gießen. Langsam freue ich mich auf mein erstes Rudern. Bin ich so schnell gesundet? Martin kann nicht rudern, weil er auch nicht schwimmen kann. Ist er gesund? Rudern ist am Ende einer logischen Kette, die mit Schwimmen können beginnt. Wer in Deutschland denkt diese Kette logisch und konsequent?

Einmal war ich bei einem Ruderclub in Berlin am Wannsee und habe mit den dortigen Honoratioren über deren Nachwuchssorgen geredet. Wer durch dieses schmiedeeiserne Tor gegangen ist, der kennt den Club der toten Dichter, dachte ich damals. Ich fragte sie, zu wem das Bootshaus nebenan gehöre. Dem Schülerrudern, sagten sie. Ob es denn da einen Dialog gäbe. Nein. 

Im Boot beim WSV Hellas Gießen
Im Boot beim WSV Hellas Gießen   Bild: Martin Vogel

Was wäre, frage ich Hans-Werner, wenn an sämtlichen hessischen Universitäten, an denen Sportlehrer ausgebildet werden, also in Kassel, Marburg, Gießen, Frankfurt und Darmstadt, ein Scan Standard wäre, der zukünftige Sportlehrer auf ihre Vorlieben hin prüfe? Wie viele Wasser- und Ruderaffine wären das wohl? Und was wäre, wenn Eine oder Einer von diesen wüsste, dass Hans-Werner und die Schule einen Nachfolger für seine tolle Stelle mit Rudermotiv suchen? Gut wäre das. 

Der Gießener nennt seinen Friseur Ballefusser. Das kommt aus dem Manischen, der Sprache der Weststadt, die dem Rotwelschen und dem Jiddischen entstammt. Ich muss zum Ballefusser, jetzt, wo es wieder geht und ich gleich rudern gehe. Martin sagt, Du musst zu Vinod! Vinod ist Weltklasse, schnell und professionell. Und ohne Voranmeldung! Er fragt, klassisch? Ich sage, ja, und bitte keinen Fußballer. Vinod ist wirklich schnell und professionell. Ich sage ihm, Vinod, Du bist berühmt in Gießen! Ich war aber noch nicht im Fernsehen. Ich bring dich in die Zeitung, sage ich ihm und fühle mich wie ein Angeber.

Song of the day

Bill Wells Trio – Presentation Piece #1

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Henning Harnisch
Author Henning Harnisch
Beim SKV Blau-Weiß in Herfa
Beim SKV Blau-Weiß in Herfa   Bild: Martin Vogel

Tour 2 - Tag 6: Zwetschgenkuchen in Eiterfeld und Kegeln in Herfa

Wir machen Pause und sitzen beim Bäcker Happ in Eiterfeld, kurz vor der ehemaligen innerdeutschen Grenze, und gönnen uns einen Zwetschgenkuchen. Am Nebentisch sitzen Kollegen. Ich tippe auf CDU. Und zwinge mich, nicht zuhören zu wollen, obwohl oder weil sie von „vereinseigenen Sportstättenbau“ , „Sachbearbeitern“ und „richtigen Förderprogrammen“ reden. Martin schneidet derweil Filmchen auf seinem Handy. Auf der Anlage läuft Dudelfunk. Draußen regnet es. Kein mobiles Internet in Eiterfeld. Eine irritierende Aufzählung ist das. Ich habe einen leichten Freitag-Nachmittag-Blues, merke ich. Nachher kegeln wir noch mit Justin Ehling, dem Junioren-Weltmeister aus Heringen-Herfa, last exit Hessen vor Thüringen.

Bei der KSV Baunatal mit SPD-Abgeordneter Manuela und Geschäftsführer Timo
Bei der KSV Baunatal mit SPD-Abgeordneter Manuela und Geschäftsführer Timo   Bild: Martin Vogel

Der Tag begann perfekt. Wir besuchten einen der größten Sportvereine Hessens, den KSV Baunatal. Für mich ist KSV Baunatal zweite Bundesliga im Fußball. Aber das ist Stand meiner Kindheit. Die Fußballer spielen inzwischen fünftklassig, Oberliga Hessen. Die Pracht des Vereins liegt heute mehr im Ganzen. Der geschäftsführende Vorstandsvorsitzende Timo Gerhold präsentiert uns eben dieses Ganze. Der KSV gehört dem Freiburger Kreis an, der Vereinigung der Großvereine in Deutschland. TK Hannover, ASC Göttingen oder TSV Bergedorf sind Motoren im deutschen Sport. Sie und andere Großclubs denken und entwickeln ihn aus dem Hauptamt und sind zum Beispiel freie Träger im Ganztag und verorten sich und ihre Arbeit in Sozialräumen.

In Berlin gehören SC Siemensstadt, TSV Spandau oder TSV Wittenau zu diesem Typus Sportverein, in Hessen beispielsweise die TG Bornheim. Sie tragen nicht nur einen ganzen Stadtteil im Namen, sondern bearbeiten diesen systematisch. Großvereine sind organische Verbündete der Sportidee.

Baunatal hat 28.000 Einwohner. 7.000 Mitglieder hat der Verein. Rechnet man die Kursteilnehmer und Schulkinder ohne Mitgliedschaft dazu, kommt man auf 10.000 Menschen, die der KSV Baunatal in Summe erreicht. Das ist ein sagenhafter Schnitt, finde ich. So sehen sie das auch, glaube ich, denn angenehm selbstbewusst sind sie. Ein Verein für alle wollen sie sein, von jung bis alt sollen die Leute mitmachen können. So werden, der Logik der Sportidee folgend, die Kinder aus zwölf der 15 Kindergärten der Stadt von Trainern des Vereins in den Sport hineingeführt und nach Programm bewegt, entweder in Räumen der Bildungsorte oder des Vereins. 

In Fulda-Aschenberg
In Fulda-Aschenberg   Bild: Martin Vogel

Sie haben ihren eigenen Ort. Wie der aussieht und was da passiert, erzählt jeden Verein. Timo sagt, dass das Sportzentrum, in dem wir gerade sitzen, 2002 gebaut wurde; mit Unterstützung von Land und Kommune, aber größtenteils aus eigenen Mitteln finanziert. Es gibt einen Empfangstresen, nebenan die Gastronomie, zig Sporträume über zwei Stockwerke verteilt und Büroräume für die, die das alles organisieren. Wir drehen eine Runde.

Männer und Frauen in der zweiten Lebenshälfte, Trinkflasche oder Handtuch in der Hand, wuseln zielgerichtet umher. Fitness, Gymnastik, Yoga – vieles, was Menschen, die vormittags Zeit haben, sportlich gerne machen würden oder sollten, damit sie sich danach besser fühlen, gibt es hier. 

Timo hat Sport in Gießen studiert und danach noch ein berufsbegleitendes Zusatzstudium für Sport und Ökonomie absolviert. Er argumentiert ruhig, klar und logisch aus dem Überblick und hat stets das Ganze im Blick, wenn er über seinen Verein und den Sport der Region redet. Es macht Spaß, mit ihm über das Thema zu reden. Wir verabreden uns für den Oktober zum gemeinsamen Rennrad fahren. Wenn in den 55 Wahlkreisen Hessens 55 Timos sitzen würden, dann wäre nicht nur für den Sport sehr viel geklärt. Wage ich zu behaupten. 

Kegeln in Herfa
Kegeln in Herfa   Bild: Martin Vogel

Der Tag endet dann in Herfa. Wir sind bei den Keglern vom SKV Blau-Weiß. Auch sie haben ihren Ort, im Keller des Gemeinschaftshauses. Martin und ich hatten uns extra eine halbe Stunde Zeit genommen, um vorher ein wenig durch das Dorf und die Gegend zu gehen. Nach zehn Schritten fängt es stark zu regnen an. Irgendwie ist der Wurm drin. Also stehen wir stattdessen an der Bushaltestelle und tun so, als ob wir Jugendliche wären. Es ist Freitag früher Abend. Wie im Drehbuch. 

Als wir bei den Keglern ankommen, kegelt gerade die Jugend. Eltern und Leute aus dem Verein sind da. Es ist ein freundlicher Empfang. Wir legen los. Wieder einmal so eine banale wie für mich überraschende Erkenntnis, die mich auf der Kegelbahn überkommt: Jeder hat schon einmal gekegelt! Das können nicht viele Sportarten neben Fußball von sich behaupten. Tischtennis, auf jeden Fall, allein der Rundlauf an den Schulen. Schwimmen, klar. Aber sonst? Kegeln sieht sehr elegant und gleichzeitig kraftvoll aus, wenn Justin, der Junioren-Weltmeister, das macht. Wir kegeln uns ein, dabei erklärt mir Justins Vater, der auch sein Trainer ist, den Bewegungsablauf und die Technik. Drei Schritte gilt es zu gehen, der letzte ist dann sehr lang und tief. Während ich das schreibe, spüre ich sehr lang und tief im Gesäß die Folge davon. Wir kegeln uns ein. Ein normales Match dauert 120 Runden: 60 mal „Volle“, 60 mal „Abräumen“. Dauer: rund 45 Minuten. 

Kegeln in Herfa
Kegeln in Herfa   Bild: Martin Vogel
Nach 40 Mal sage ich, ok, super, reicht, oder? Justins Vater schüttelt den Kopf, er hat diesen gewissen Schlawinerblick, der vielen Hessen eigen ist, und schlägt ein Match vor: Justins Schwester Joelle, die immerhin deutsche Meisterin in ihrer Altersklasse ist, mit dem Bürgermeister gegen den Weltmeister und mich. Justin erlegt jedes Mal mindestens acht Kegel, während ich langsam sauer auf mich werde. Ich mag den Wettbewerber in mir im Sport nicht mehr. Warum rege ich mich auf? Was soll das? Und warum denke ich darüber nach, was die Zuschauer wohl denken? Wo ist mein Psychologe?
Ich frage Justin, wie oft er trainiere. Zweimal die Woche. Stell dir mal vor, sage ich, Du würdest jeden Tag trainieren. Er spiele auch noch Fußball. Und man müsse es ja nicht übertreiben, schiebt er nach, es solle ja auch noch Spaß machen. Ein guter Ansatz, finde ich. Am Ende rede ich mit Vater und Sohn über die Weltmeisterschaft. Wo wird eigentlich gekegelt außerhalb von Deutschland? Schon in einigen europäischen Staaten. Aber in der Welt? Brasilien war dabei, also war es eine Weltmeisterschaft. Logisches Denken. Und Herfa hat einen Junioren-Weltmeister. Highfive und Basta!
Mit Kegel-Juniorenweltmeister Justin Ehling beim SKV Blau-Weiß Herfa
Mit Kegel-Juniorenweltmeister Justin Ehling beim SKV Blau-Weiß Herfa   Bild: Martin Vogel
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Henning Harnisch
Author Henning Harnisch
Bei der KSV Baunatal
Bei der KSV Baunatal   Bild: Martin Vogel

Tour 2 - Tag 5: Kein einziger Stinkstiefel dabei

Bisher habe ich mich auf meiner Reise mit 155 Hessen getroffen. Für die Wissenschaftler: vielleicht waren es auch 156. Das waren nicht alles Ur-Hessen, aber darum geht es auch nicht. Es sind alles Leute, die ich treffen wollte, weil sie a) den Sport in Hessen leben und verkörpern; und weil sie b) logischerweise die sind, die ich kennenlernen und von ihnen wissen will, was sie machen und denken; und weil ich c) ihnen meine Sportidee vorstellen will.

Es sind Leute aus großen und kleinen Vereinen, die ich treffe, es sind Sportlehrer, Trainer und Erzieher, Professoren, Vereinsleiter, Schulleiter und Hortleiter, Manager aus Sportverbänden und Institutionen und es sind Eltern und Aktive. 

Bei Aschenberg United
Bei Aschenberg United   Bild: Martin Vogel

Es mag an der Vorauswahl gelegen haben, aber ein paar Erkenntnisse aus diesen Treffen möchte ich gerne teilen: Die Leute, die ich bisher getroffen habe, waren durch die Bank nett, humorvoll, fit und aufgeschlossen für neue inhaltliche Ideen. Fünf waren vielleicht etwas kauzig oder grummelig, aber das mehr aus der Tagesform heraus, die ich, selbstreflexiv wie ich bin, selbst von mir kenne. Fünf von 155. Kein einziger Stinkstiefel war dabei. 

Vor allem haben alle diese Leute meine Gedanken zum Sport und was es im Sport zu tun gilt, geteilt. Nicht aus Faulheit, sondern aus glasklarer Überzeugung. Martin und ich haben spätestens ab Person #100 angefangen so zu tun, als langweile uns dieser ewige Konsens.

Aber ganz im Ernst, woran liegt es, dass diese Leute ganz schnell Übereinkunft über die grundlegendsten und wichtigsten Fragen des Sports haben? Wie kommt einer in den Sport? Wie lernt er oder sie möglichst Vieles aus der großen, weiten Welt des Sports kennen? Wie bleibt er dort dauerhaft? Welche Rolle spielen Trainer und Sportlehrer in diesem Prozess? Und warum sehen alle unisono eine große Dringlichkeit, Antworten auf eben diese Fragen zu finden? 

Bei Handball-Bundesligist MT Melsungen, links Manager Axel Geerken
Bei Handball-Bundesligist MT Melsungen, links Manager Axel Geerken   Bild: Martin Vogel

Meine Gesprächspartner sind Männer und Frauen vom Fach. Das Wort Fach heißt für mich, Experte für die Sache zu sein. Experten im Sport sind zunächst selber Sportler und haben erfahren, was Sport ist oder sein kann. Das hat bei ihnen Folgen gehabt. Sie sind beruflich im Sport gelandet, weil sie dort unbedingt landen wollten. Intrinsisch nennt man das.

Sportler erkennen und verstehen sich schnell, das ist ja eine der dem Sport innewohnenden Qualitäten. Sportler erkennen und verstehen auch direkt, wer kein Sportler ist oder nicht wie ein Sportler denkt und handelt. 

Vielleicht ist das der Kern für die Arbeit der nächsten Jahre im Berliner Sport, im hessischen Sport, im Sport überhaupt: die Sportler, die Leute vom Fach sagen zu lassen, was zu tun ist. Und dann dafür sorgen zu lassen, dass das Gesagte umgesetzt wird. Wie gesagt, der Konsens unter den Sportlern zu den großen Themen liegt recht hoch bei 100%. Das habe ich jetzt amtlich. 

Song of the day

Brian Jonestown Massacre – Anenome

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Henning Harnisch
Author Henning Harnisch
Das Marburger Schloss
Das Marburger Schloss   Bild: Martin Vogel

Tour 2 - Tag 4: Rote Spuren ins Nirwana

Mein Blick auf die Welt im Berliner Alltag ist der eines Gehenden oder Radfahrenden. Vor gut zehn Jahren haben wir das Auto abgeschafft. Das war eine weise Entscheidung. Seitdem gehe ich und fahre das ganze Jahr hindurch alle Strecken in der Stadt mit dem Rad. Das geht.  

In Hessen bleibt diese Praxis bisher auf der Strecke. Ich merke gerade, dass ich mein Fahrrad schon arg vermisse. Auch das Gehen vernachlässige ich hier sehr, das kann im Prolog zu dieser Tourphase noch so viel beschwört werden. Wir kriegen es bisher nicht in den Tag eingebaut. Es ist aber auch ein bedeutender Unterschied, ob das Schwimmen, wie zuvor, zum sportlichen Leitmotiv erklärt wird oder es jetzt das Gehen ist. Gehen ist leichter zu machen, denkt man. Stimmt aber nicht. Wenn es nicht um das große Gehen, die Wanderung oder den Spaziergang geht, sondern ums alltägliche Gehen von A nach B, dann ist das schwerer zu realisieren als Schwimmen. Schwimmen muss geplant werden und ist deswegen leichter zu machen. 

Bei Marburg-Cappel
Bei Marburg-Cappel   Bild: Martin Vogel

Heute ändert sich das. Martin und ich haben den Tag so aufgebaut, dass vormittags alles zu Fuß passieren kann. Wir bleiben also zunächst in Marburg. Kleine Beobachtungen der letzten Tage geben Geleit. Wenn ich morgens im Auto in Cappel starte und mich ab der großen Kreuzung Richtung Stadtautobahn quäle, dann sehe ich fast ausschließlich einzelne Menschen in den Autos sitzen. Sind das alles bekennende Cowboys? Können die sich nicht verabreden? Üben die fürs selbstfahrende Auto?

Gestern bog ich aus dem Vorort kommend auf die Landstraße gen Stadt ein und hatte noch kurz eine wagemutige Radfahrerin im Blick, die wirklich auf dieser Straße der Heizer unterwegs war. Diese Straße ohne Radspur führt zu einer großen und wichtigen Kreuzung, mit der ich aufgewachsen bin und die geschätzt über zwei Jahre mit einem enormen Aufwand neu gemacht wurde. Das Resultat ist ein moderner Schildbürgerstreich. Dass sich Autofahrer seitdem, je nach Tageszeit, in zumindest zwei Richtungen stauen, sei hier nur als Fußnote erwähnt.

Zwei rot leuchtende Radfahrerspuren markieren, dass an Fahrräder gedacht worden ist. Auf genau einer der Straßen, die in Richtung Kreuzung führen. Eine der Spuren dort weist an der Ampel nach links, mit Pfeil verstärkt, man wird also wortwörtlich den Autofahrern vor die Nase gesetzt. Als ob die einen dann mit Einladung bei Grün wegräumen sollen. Davor fängt schon die linke der roten Spuren im Nichts der Straße an. Es ist unfassbar. Aber real. Die roten Spuren enden übrigens, wie sonst, im Nirwana. Martin, mach ein Foto davon, bitte! 

Kreuzung in Marburg
Kreuzung in Marburg   Bild: Martin Vogel

Der dänische Architekt und Stadtplaner Jan Gehl ist weltweit aktiv, um Städte nach dem menschlichen Maßstab umzugestalten. Er hat Kopenhagen und Melbourne zu liebenswerten und den lebenswertesten Städten der Welt entwickelt. Seine Ideen sind sehr einfach wie verständlich: Wenn ich den Mensch ins Zentrum aller urbanen Überlegungen stelle, werde ich ihn und seine Fahrräder vor den Autos schützen müssen. So argumentieren übrigens all die klugen Planer, die sich mit den Städten der Zukunft beschäftigen.

Wir sitzen auf der Terrasse des Café Vetter, das Kranzler Marburgs. Der Weg entlang der Lahn dorthin war ein schöner. Zwar läuft rechterhand die Schallwand der Stadtautobahn mit und verhindert Blicke, dämpft aber zumindest ein wenig den Lärm. Linkerhand fließt ruhig die Lahn, dort sind für den Gehenden die Postkartenansichten der Stadt einzusammeln. Wir sitzen mit Egon Vaupel, dem ehemaligen Oberbürgermeister der Stadt, zusammen. 

Mit Egon Vaupel, ehemaliger Oberbürgermeister von Marburg
Mit Egon Vaupel, ehemaliger Oberbürgermeister von Marburg   Bild: Martin Vogel

Alle sagen mir, Du musst Egon Vaupel treffen. Es ist sehr erhaben, den OB, ob aktuell oder ehemals, seiner Heimatstadt zu treffen. Darf ich Du sagen?, frage ich ihn. Egon redet und entfaltet mit sagenhafter Leichtigkeit ein Spektrum an Themen, Visionen und Weisheiten rund um Sport, Kultur und Bildung. Jetzt weiß ich, wie der Begriff Einsatz entstanden ist. Ich warte auf meinen einen Satz. Als ich ihn bekomme, sage ich: Egon, ich teile alles, was Du sagst, ich sehe das genauso! Am Ende frage ich ihn nach der Kreuzung. Er antwortet indirekt. Er zeigt nach unten zur Straße. Wer jetzt nicht versteht, dass in fünfzehn Jahren hier keine Autos mehr fahren werden, der versteht nichts. Kürzlich war ich in Kopenhagen, sagt er. Egon, vielen Dank, ich zahle gerne!

Song of the day

Stephen Malkmus & The Jicks - Bike Lane


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Henning Harnisch
Author Henning Harnisch
Zu Gast beim WSV Lampertheim
Zu Gast beim WSV Lampertheim   Bild: Martin Vogel

Tour 2 - Tag 3: Erbarmungslose Hitze mit Schnupfen und dickem Kopf

Martin und ich fahren wieder durch die Gegend. Wir kriegen Indian Summer auf Hessisch geboten. Gestern Abend sind wir schon durch den spektakulärsten Sonnenuntergang östlich von Arizona gefahren. Die Silhouette des Taunus spielte dabei eine Rolle, doch die Hauptrolle hatte Technicolor, so viel betörendes Rot in allen Tönen zierte da den Westernhimmel. 

Jetzt knallt die Sonne. Die Klimaanlage sirrt, die Temperaturanzeige sagt 31 Grad. Am 19. September. Das Draußen und das Drinnen wirken, als ob jederzeit ein Waldbrand um die Ecke kommen könnte. Was musste Hessen leiden die letzten Monate! Beide kränkeln wir. Taschentücher und Salbeibonbons lagern in der Mittelkonsole. Martin sagt, wir reden gar nicht mehr über die Mischwälder. Es ist wirklich heiß. Selbst die Wespen hatten schon aufgegeben. Bei diesen Hitzegraden lassen sie in Hessen übermutig das Wasser aus den Freibädern ab, als ob sie es satt hätten. Vorher dürfen noch die Hunde ran, sie sind die Letzten, die dort planschen. Diese letzte Runde erbarmungslose Hitze, nach der niemand gefragt hat. Mit Schnupfen und dickem Kopf. Wir leiden.

Die Halle des WSV Lampertheim
Die Halle des WSV Lampertheim   Bild: Martin Vogel

„I see a darkness“ von Bonnie „Prince“ Billy läuft, als wir Lampertheim erreichen. Lampertheim liegt am Rhein und ist so ziemlich der südlichste Zipfel Hessens. Mannheim ist ein wenig südlich, Worms auf der anderen, der rheinland-pfälzischen Seite des Flusses. Hier sollen und wollen wir heute beim Wassersportverein Lampertheim 1929 e.V Kanu fahren.  Ich freue mich darauf seit Tagen. Wie das wohl sein mag, immer einseitig einstechen?

Und jetzt sind wir in dieser Verfassung hier. Wir sind zu früh und suchen ein Café. Hier ist alles zu, sagt Martin. Als ob der ganze Ort zu ist, fügt er hinzu. Soviel Zusammenhängendes hat er den ganzen Tag noch nicht gesagt. 

Eine Reihe Ehrenbürger erwartet uns auf dem Vereinsgelände. Sie bilden einen Kreis und ich erwarte, dass sie von mir eine ernste Rede erwarten. Sie gucken auf meine Sportsachen und sagen, das kannst Du vergessen. Recht haben sie. Zum einen zeigt sich der Alte Rhein, ein Seitenarm des Rheins, auf den wir gucken, in desaströser Verfassung. Wer hat da wohl den Stöpsel gezogen? Der Seitenarm leidet auch. Zum anderen erklären sie mir nüchtern, dass ich – bei meiner Größe! –  keine Chance hätte, länger als zehn Sekunden im Rennboot zu bleiben.

Schnittig und schön sind die Dinger ja wirklich. Ich mache die Beckerfaust, der geplante Sport fällt aus. Leidende Sportler sind schlimm, ich weiß. Wo ist eigentlich Martin? Wir stehen eine halbe Stunde in der Sonne bei 38 Grad und sie erklären mir, wie es in ihrem Verein läuft. Und was bei den Ruderern anders läuft. Zum Beispiel fahren diese rückwärts und sehen dadurch die Kneipe erst zu spät. 

Erklären der Sportidee
Erklären der Sportidee   Bild: Martin Vogel

Wassersportvereine sind für Außenstehende wie mich sehr interessant. Nicht nur, weil ich Wassersport in Gänze sehr schätze, inklusive der sozialen Seite rund ums sportliche, sondern auch weil das ein sehr traditionalistisches Sportwesen in Deutschland ist und man dort sehr viel über Sport und Kultur lernen kann. Wassersport ist ausdifferenziert bis ins kleinste Detail. Beim Wassersportverein Lampertheim heißt Wassersport Kajak. Und Kajak ist eine Unterkategorie von Kanu. Alle anderen Wassersportarten macht man hier nicht.

Morgen werden wir bei Hellas Gießen sein, das ist der Ruderverein der Arbeiter in der Stadt. Wir waren schon einmal da, da konnte ich aber nicht rudern, weil sie das falsche Boot für mich im Wasser hatten. Nach morgen, denke ich, muss Grundsätzliches zum Wassersport gesagt werden. Nicht heute. Martin und ich, wir kämpfen. Noch zwei Termine. Keinen Schritt zuviel gelaufen bin ich heute. Und das ist auch gut so.

 

 

Song of the day

Bonnie ‚Prince“ Billy – I See A Darkness

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Henning Harnisch
Author Henning Harnisch
Slackline in der Waldschule Wehrda
Slackline in der Waldschule Wehrda   Bild: Henning Harnisch

Tour 2 - Tag 2: Glücklich wie Bolle

"Schüler können keinen Purzelbaum mehr“, so hatte Zeit Online letztes Wochenende ein Interview mit mir betitelt. Daraufhin hatte mich Sportlehrer Sebastian aus Marburg kontaktiert und gesagt, bei ihm könnten alle Kinder einen Purzelbaum, ob ich mir das angucken wolle. Er hat das nicht in einem selbstverliebten Ton gesagt, sondern wie jemand, der wirklich etwas zeigen will. Also nichts wie hin zu Kindern, die einen Purzelbaum können und zu einem Lehrer, dem das wichtig ist. So kann die zweite Tour durch Hessen gerne starten.

Sebastian unterrichtet an der Waldgrundschule Wehrda, einem Vorort im Norden von Marburg. An dieser Grundschule war auch meine Mutter Lehrerin. Was ich im Augenblick alles hautnah erinnern darf! In Cappel, einem Vorort im Süden der Stadt, bin ich aufgewachsen, hier leben meine Eltern immer noch. Ich überlege, ob ich die Strecke von ihrem Haus bis zur Schule zu Fuß gehen soll. Ein schöner Gang entlang der Lahn wäre das. Sportlehrer Sebastian und ich verabreden uns für kurz-vor-acht am Morgen. Google sagt, zwei Stunden wären das zu Fuß. Ich bin mir sicher, ich hätte viel erlebt in dieser Zeit. Stattdessen fahre ich den Weg mit dem Auto, genau wie meine Mutter das 21 Jahre lang getan hat. Und erreiche die Schule, die den Berg hoch am Waldrand liegt. Es ist sehr lauschig hier.

„Guten Morgen, Herr von Hagen“, ruft die Gruppe der im Kreis sitzenden Zweitklässlern Sebastian von Hagen entgegen, als der den Unterricht eröffnet. 24 Kinder sitzen da am Montagmorgen.

Ich habe gehört, sage ich, ihr könnt alle Purzelbaum. Jaaa!, ruft die Gruppe. Meine Mutter war hier Lehrerin, auch für Sport, fahre ich fort. Kinder spüren, wenn etwas deep ist, deswegen gucken sie mich so ernst an, als ich das sage. Und ich spüre eine gewisse Aura in dieser Schulturnhalle, als ich das sage. 

Der Einradparcours
Der Einradparcours   Bild: Henning Harnisch

Es ist eine Doppelstunde Sport. Nach einer Stunde ist alles geklärt, der Test am Ende ist nur Schau oder fürs Protokoll. Alle Kinder reihen sich vor den Weichmatten auf und machen, eins nach dem anderen, einen sauberen Purzelbaum, für sie ist es langweilig. Ich beende diesen Test, mein erster Purzelbaum seit Jahren – gar nicht langweilig. Von wegen, wir können keinen Purzelbaum, gibt mir eines der Mädchen noch eine Backpfeife mit auf meine weitere Reise quer durch den hessischen Sport. 

Sportlehrer Sebastian hatte mir zuvor die Erklärung gegeben, warum der Purzelbaum hier so selbstverständlich für die Kinder ist. Er ist übrigens gar kein ausgebildeter Sportlehrer. Das macht aber gar nichts, denn er hat Ideen, wie man das mit dem Sport und den Kindern ab der ersten Klasse macht. Heute, wie meist sonst auch, baut er einen Parcours mit verschiedenen Stationen auf. Viele Ideen kommen aus dem Zirkus, dementsprechend fallen Wörter wie Einradstraße, Trapez, Slackline, Kugellaufen und Diabolo, als Sebastian mir die Stationen erklärt. Doch was die Kinder aus diesen Wörtern machen, ist die eigentliche Nachricht: Diese Kinder machen alles, können fast alles und sind glücklich wie Bolle, während sie es machen. Sie trippeln geschickt auf den Kugelbällen und jonglieren teilweise dabei oder sie dribbeln dazu mit dem Basketball; sie springen von einem Kasten ans Trapez, lassen sich dort tragen und springen hinab in eine Flugrolle; sie fahren fast alle souverän auf dem Einrad herum (fast alle Mädchen, um genau zu sein; die Jungen brauchen dafür länger, erklärt mir Sebastian). 


Ich frage ihn, wie das alles möglich sei, worauf es ankomme? Interessant müsse es sein, was da zum Handlungsraum im Sportunterricht werden solle. Ich verstehe sofort, dass der Parcours für Kinder sehr interessant ist. Die Kinder müsse man machen lassen, das wäre essentiell. Eine Zirkus-AG sei die logische Vertiefung des Ganzen. Und man solle es münden lassen in ein Event, wo das Gelernte der ganzen Schule oder ganz Wehrda gezeigt werden könne, und die Jüngsten das zukünftige Ziel vor Augen hätten. Punkt. Alles soweit gesagt. 

Fast alles. Zum Abschluss der Wimmelei und Wuselei mit Konzept frage ich ihn, ob er etwas mit dem Begriff der Nettobewegungszeit anfangen könne. Er kann. Die Nettobewegungszeit, so hat mir Professor Winfried „Winne“ Leue, unser Partner bei Alba für didaktische Fragen und Themen, einmal erklärt, das sei die Zeit im Sportunterricht, in der sich die Kinder wirklich bewegen würden. 45 Minuten dauert eine Sportstunde an der Schule. Acht Minuten sind es im Schnitt, sagt Winne mir. Acht. In Wehrda sind es 28 Minuten.

 

Song of the day

Sevdaliza – Human

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Henning Harnisch
Author Henning Harnisch
Marburg will erklommen sein
Marburg will erklommen sein   Bild: Henning Harnisch

Tour 2 - Tag 1: Gehen kann vieles sein

Gestern ist mir eine kenianische (keine afrikanische) Läufergruppe im Tiergarten entgegen gekommen – wie die gelaufen sind! Wie Federn! Wahrscheinlich ist das deren Aufwärmtempo, dachte ich. Und hatte kurz überlegt, ob ich umdrehen und ihnen auf dem Fahrrad folgen und sie bei ihrem anmutigen Tun filmen solle. Aber wie hätte das denn ausgesehen! Stattdessen verlasse ich die Stadt mit dem Marathon und werde dieses Jahr nicht Zeuge sein, wie am Tag nach dem Lauf kreuz und quer durch die Stadt gehumpelt wird.

Mit meinen Marburger Freunden gehe ich einmal im Jahr für ein verlängertes Wochenende wandern. Einer hat in der Vorbereitung den Hut auf und macht Vorschläge, wo es diesmal hingehen soll. Auf Telegram wird das dann über Monate diskutiert, ziemlich sinnentleert und zeitintensiv übrigens. Doch am Ende steht der Weg. Diesmal soll es durchs Lahntal gehen. Und ich habe gestern abgesagt.

Es ist Wahlkampf, ich bin sehr viel unterwegs und ich habe Familie, sage ich. Alle verstehen, wollen sich Wahlkampf-T-Shirts für die Wanderung drucken lassen (hahaha) und diskutieren seitdem bei Telegram, ist doch logisch, über Christian Lindner und seine Rolle in der Welt. Ich schalte mich aus. Und sitze im Zug, auf dem Weg zurück nach Hessen, die zweite Tour beginnt.

Es ist verdächtig still im Zug. Keine Meldungen über Verspätungen oder verpasste Anschlüsse. Was ist hier los? 

Wäre ich zu Fuß von Berlin nach Marburg gelaufen, recherchiere ich, hätte das mindestens 89 Stunden gedauert, sagt mir Google Maps. Ich wäre, merke ich, wirklich gerne mit meinen Freunden durch die Gegend gelaufen. 

In der Marburger Oberstadt
In der Marburger Oberstadt   Bild: Henning Harnisch

Das Schöne am Freizeitsport ist, dass man jederzeit nein sagen kann. Das ist gleichzeitig das Gefährliche. Denn schnell wird aus dem einmaligen Nein ein dauerhaftes. Ist aber auch gemütlich so ohne! Der Plan war, während meiner drei Touren durch Hessen bis Ende Oktober jeden Tag schwimmen zu gehen. Doch die Schwelle ins Hallenbad ist abartig hoch. Anders gesagt: Da will ich nicht hin. Noch nicht. Zu schön war es draußen im Freien. Stattdessen möchte ich gehen. Auch das ist eines der schönen Dinge am Freizeitsport: man kann machen, was man will. Kein Trainer und keine Struktur gibt das Tun vor. Siehe, wie auch hier jederzeit die Gefahr lauert und droht! 

Ich ergehe mich. Gehen ist schön. Gehen ist schön? Genau der Frage möchte ich nachgehen. Altmodisch gesagt: Hessen möchte von mir ergangen werden. Gehen ist schlendern, wandeln und flanieren. Gehen ist wandern, pilgern und marschieren. Gehen kann vieles sein. Ist Gehen Sport?

Es gibt den ausgewiesenen Sport des Gehens und der ist olympisch. Diese Geher gehen extrem, da wackelt es von links nach rechts, die Arme sind wie die einer Maschine aus der industriellen Revolutionszeit am pumpen, vor und zurück geht es da, zack, zack, zack, immer weiter, immer weiter. Eine anstrengende, harte Sache muss das sein. Ob Geher wohl lachen? Mal gucken, ob ich in den nächsten Wochen auf einen von ihnen treffe und er oder sie mich unterweist in Technik, Training und Spaß des Ganzen. 


Henning Harnischs Vater beim Spaziergang
Henning Harnischs Vater beim Spaziergang   Bild: Henning Harnisch

Gehen ist ein tolles Wort. Vor allem, wenn es beschwert und umwandert wird. Da umgeht der eine, da begeht der andere, vergehen kann man sich und da wird hochgegangen wie das HB-Männchen und untergegangen wie auf der Titanic.

Sprache und Leben entwickeln sich gehend. Wer kennt nicht einen, der sich gehen lässt? Hier geht's aber ab! Wieviel Mensch und Kultur sich aus dem zweibeinigen Gang eröffnet! Los geht’s! Geht’s noch? Das geht! Geht doch. Ich geh mal kurz Zigaretten holen… Wer geht, ist aktiv. Der Weg ist manchmal das Ziel dabei. Willst Du mit mir gehen?, war für viele Generationen die Frage in der Jugend, um die sich alles rankte und drehte. Wie geht’s?

Es geht gut. 


Song of the day

The 3Ds – Beautiful Things

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Henning Harnisch
Author Henning Harnisch
Alleine im Freibad Kirchhain
Alleine im Freibad Kirchhain   Bild: Martin Vogel

Tag 13 Elvis-Moment im Freibad


Heute ist der letzte Tag. Zwei Wochen Martin, Autofahren und Leute treffen liegen hinter mir. Und heute ist der letzte Tag draußen schwimmen. Ich weiß noch gar nicht, wo. Abschwimmen nennen sie das. Ein perfektes Timing. Ich bin aus Berlin weggefahren, als alle wieder nach Hause kamen, am Sonntag vor dem Schulstart. Jetzt geht es zurück, wenn die Bäder nach einem der sattesten Sommer der Geschichte ihre Tore schließen. Seit Tagen schon spürt man das Ende nahen. Die Anzahl der mit mir Schwimmenden macht mich als Berliner fassungslos: gestern in Kirchhain war es keiner, Samstag in Mörfelden vier, Freitag in Kleinlinden zwei. Macht im Schnitt?

Ohnehin ist da viel Stoff, um fassungslos zu werden. Was hat denn Hessen für eine Freibaddichte! Martin, der ja Journalist ist, Schwerpunkt Social Media und Visuelles, weigert sich, sauber zu recherchieren, ob Hessen weltweit, ja, weltweit, nicht deutschlandweit, der Flecken Erde mit den meisten Bädern unter freiem Himmel ist. Stattdessen filmt und fotografiert er für Instagram.

Martin kann übrigens nicht schwimmen. Gestern klärte er darüber meine Eltern auf. Ich war in der Nichtschwimmergruppe in der Schule, erzählte er. Ja, und was habt ihr da gemacht?, fragte ich mich. Ich werde das sauber recherchieren mit der Freibaddichte. Wenn ich mal wieder Zeit habe für solche luxuriösen Sachen.


Allein im Freibad Schmitten
Allein im Freibad Schmitten   Bild: Martin Vogel

Ansonsten kann ich jedem raten: Fahren Sie für zwei Wochen im Spätsommer, wenn die Schule wieder läuft, nach Hessen! Okay, mein Timing war top. Nach diesem Sommer wurde allen bei 20 Grad in der Luft kalt. Beschwimmen Sie jeden Tag ein anderes Bad! Herrliche Landschaftsarchitektur finden Sie vor, wunderschöne Sprungbretter und pittoreske Kioske allerorten. Es ist übrigens ganz egal, wann Sie eintrudeln, die Chancen stehen immer und überall sehr gut, dass Sie das Elvis-Gefühl genießen können. Elvis-Gefühl? Der King hatte sein eigenes Kino zuhause. Ganz alleine konnte er, wann immer er wollte, Filme schauen. Hört sich ganz schön traurig an, merke ich gerade.

Allein im Brentanobad Frankfurt – dem größten Freibad Europas
Allein im Brentanobad Frankfurt – dem größten Freibad Europas   Bild: Martin Vogel

Ich hatte drei Elvis-Momente: Freibad Schmitten im Hochtaunus, gestern in Kirchhain und vor einer Woche, als es zum ersten Mal seit Jahren am Morgen geregnet hatte, im Brentanobad in Frankfurt. Das war übertrieben dort. Für fünf Minuten war ich in diesem Bad, in diesem Meer von einem Bad, mit seinem 220-Meter-Becken, 125 davon Schwimmerbereich, allein. Komplett allein! Ich habe mich da, wirklich wahr, ein paarmal verschwommen. Schon der Weg vom Eingang zum Becken ist den Eintritt wert, es ist eine Wanderung. Ein unfassbares Bad ist das!

Jetzt, kurz bevor ich abschwimme, was umgangssprachlich auch für abhauen steht, wo ich also leicht melancholisch gestimmt bin, fühle ich mich ein wenig wie Elvis, wenn ich an mein heutiges Freibad denke, und ich mit Handtuch, Brille und Ohrstöpsel zum Eingang schlendere, während er, der King, alleine wie ich, sich mit Popcorn und Cola zu seinem Kino begibt. Ich glaube, ich muss nach Hause.

Schwimmbad of the day

Freibad Kirchhain

20×50 Meter

Song of the day

Gold Panda – Time Eater

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